Roter Staub
Konsens abgeschlossen und den Himmel zum Sperrgebiet
erklärt hatte. Der Junge war seitdem in diesem Alter eingefroren
worden. Jeder in der glänzenden Stadt war eingefroren worden. Es
war ein kurzer Blick auf die Zukunft, auf gehirnamputierte Kinder,
die Maschinen bedienten, zu Maschinen wurden. Ohne neue Erinnerung,
ohne neue Erfahrung, ohne Veränderung.
Lee sagte: »Ich muß mit deinem Anführer sprechen,
Nummer Achtundvierzig. Wird sich die Tür öffnen, wenn du
sie bittest?«
»Natürlich werde ich das«, sagte die Tür zu
Lees Überraschung.
»Nimm das Tablett und geh mit den Wächtern weg. Sobald
du kannst, kehre zurück. Kannst du das tun?«
Der Junge nickte.
»Sei tapfer. Erinnere dich daran, was du bist. Alles andere
ist ein Traum, und du erwachst jetzt daraus.«
Sobald der Junge verschwunden war, ging Lee auf und ab, auf einmal
nervös. Er hatte keine Möglichkeit zu erfahren, ob die
Viren würden eine zehnjährige Konditionierung
überwältigen können, zehn Jahre des Seins, jedoch
nicht des Werdens. Miriam Makepeace Mbele hatte ihn einmal damit
gehänselt, er wäre imstande, die Toten ins Leben
zurückzubringen: jetzt würde er sehen, ob es stimmte oder
nicht. Wenn er den Jungen retten könnte, dann hatte er
vielleicht Guoquiang gerettet. Vielleicht hatte er sie alle
gerettet.
Seine innere Uhr hatte mehr als hundert Minuten gezählt, da
öffnete sich die Tür. Der Junge stand dort, und Lee rannte
zu ihm hin. »Auf Wiedersehen, Herr«, sagte die
Tür.
»Auf Wiedersehen«, sagte Lee erstaunt, nahm den Jungen
an der Hand und ließ sich wegführen.
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76
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Die Tür zu Chen Yaos Zimmer sagte nichts, sondern
öffnete sich einfach auf den Befehl des Jungen hin. Chen Yao
hatte einen Wandbildschirm abgebaut und versuchte, die Paneele
dahinter wegzuziehen. »Ich wäre selbst rausgekommen«,
sagte sie. »Schließlich.«
»Ich bezweifle das nicht.«
Nach einer Weile sagte Chen Yao: »Wohin bringt uns dieser
Junge?« Die kahlen weißen Korridore machten sie
nervös; sie war eingestellt auf Signale und Schilder, die nicht
vorhanden waren.
»Zum Kader Nummer Eins.«
Chen Yao sagte: »Ein toter Mann wird keine große Hilfe
sein.«
»Er ist nicht tot«, sagte der Junge. Er hatte sich noch
immer nicht an seinen Namen erinnert. Lee befürchtete, daß
wenig seiner ursprünglichen Persönlichkeit verblieben war,
daß er kein Auferstandener war, sondern ein Konstrukt, wie ein
neues Gebäude auf den Steinfundamenten eines alten errichtet
werden mochte.
»Es gibt verschiedene Tode«, sagte Lee. »Wenn ich
eines gelernt habe, dann das.«
Die Türme reichten hinab bis in den erstarrten Lavaboden des
Kessels, ebenso hinauf bis in den Himmel. Der Junge führte sie
zu einem Aufzug, der eine volle Minute lang hinabfiel und zu einem
Halt kam, der kurzzeitig die Schwerkraft verdreifachte. Er
öffnete sich nicht in einen weiteren hellen weißen
Korridor, sondern in ein warmes Halbdunkel.
Orchideen, so groß wie menschliche Köpfe und so
kompliziert wie exotische Sexualorgane, glühten hinter
Facettenglas, das in den Fußboden und die Wände
eingelassen war. Andere Paneele pulsierten farbig, sandten Lichtchips
aus, die über den Raum schwärmten wie Blutkörperchen,
die durch die Herzmuskelkammern kreisten. Kabel schwangen sich von
der Decke herab und sammelten sich zu einem dicken Flechtwerk, das in
die Lehne des Sofas gestöpselt war, worauf der Kader Nummer Eins
lag.
Er war tot, verdorrt und schwarz, zum Teil Mumie, zum Teil
Kristall. Er sah aus, als würde er bei einer Berührung
zerfallen. Projektionshelme baumelten über dem Sofa wie ein
Blumenstrauß.
»Dies ist ein verrückter Ort«, sagte Chen Yao und
trat auf das Sofa zu, ein Schatten in den schwärmenden
Farben.
Aus dem Augenwinkel sah Lee den Aufzug schimmern und
zerfließen, in die Wände aus gepreßten Blumen
versickern. Als sich die Hand des Jungen in die seine stahl, sagte
Lee zu ihm: »Nichts kann dich hier verletzen.«
Da setzte sich der Leichnam des Kaders Nummer Eins auf. Er bewegte
sich steif, jedoch rasch, warf die Beine über den Rand des
Sofas, schleuderte mit einer Handbewegung Leitungen vom Kopf. Seine
Augen glitzerten rötlich, wie geschliffene Rubine. Sein Mund
arbeitete, und eine lange silbrige Zunge fuhr heraus. Sie war
gegabelt, aus Metallringen gefertigt. Sie leckte über das
Gesicht des Leichnams und peitschte dann nach Chen Yao.
Das kleine Mädchen wich vor der Zunge zurück, die ihr
nachpeitschte,
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