Roter Zar
dünne Zähne aus der Sohle. Wieder fühlte er sich bestätigt. Das waren nicht die Schuhe einer Arbeiterin, so etwas fand man nicht auf dem Land, so etwas war viel zu elegant für die sibirische Wildnis.
In diesem Augenblick flackerte die Taschenlampe erneut und erlosch.
Die Dunkelheit um ihn war so vollkommen, dass er glaubte, er wäre plötzlich erblindet.
Sein Atem beschleunigte sich. Er kämpfte gegen seine Panik an, die ihn umschwirrte wie ein Lebewesen aus Fleisch und Blut.
Fluchend rüttelte er an der Taschenlampe, worauf das Licht wieder anging.
Pekkala wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich wieder an die Arbeit.
Nachdem er so weit wie möglich alles untersucht hatte, ohne den Tatort anzufassen, streckte er nun die Arme aus.
Seine Fingerspitzen zitterten.
Er versuchte emotionale Distanz zu wahren, wie Dr. Bandelajew es ihm beigebracht hatte. »Stellen Sie sich vor, es wären keine Menschen, sondern einfach nur Rätsel«, so die Worte des Doktors.
Er schob die Hände unter den Rücken der Frau, tastete sich zwischen den feuchten, schimmeligen Kleiderschichten voran, die die einzelnen Leichen voneinander trennten, und hob schließlich die Frau ein Stück an. Sie wog noch immer einiges, anders als die Leiche, die er aus dem Kamin gezogen hatte und die so leicht gewesen war, dass sie ihn an eine japanische Laterne erinnert hatte.
Er wollte den Leichnam am Boden ablegen, um alle der Reihe nach auszubreiten, und als er ihn weiter anhob, löste sich der Schädel, kullerte auf der gegenüberliegenden Seite des Leichenhaufens nach unten und schlug mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Pekkala legte die Leiche ab, ging um den Haufen herum und hob behutsam den Schädel auf. Und dort, im Licht der Taschenlampe, fiel sein Blick auf den Ärmel eines Männergewands. Eine verschrumpelte, klauenhafte Hand hing heraus.
Die Frau oben auf dem Stapel hatte er nicht sofort identifizieren können, diese Hand allerdings glaubte er zu kennen. Zwar wies sie keinerlei charakteristische Merkmale auf, aber Pekkala hatte gelernt, seiner Intuition zu trauen.
Er legte den Frauenschädel neben den dazugehörigen Körper und wandte sich der nächsten Leiche zu.
Im Lauf der nächsten halben Stunde entwirrte er die Leichen von drei weiteren Frauen und legte sie der Reihe nach ab. Allen war ins Gesicht geschossen worden.
Für ihn bestand so gut wie kein Zweifel mehr, dass es sich bei ihnen um die Zarentöchter handelte: Olga, Maria, Anastasia und Tatiana.
Als Nächstes kam eine fünfte Frau, aufgrund ihrer Körpergröße und dem reiferen Schnitt ihrer Kleidung zweifellos die Zarin. Im Gegensatz zu ihren Töchtern war ihr allerdings von hinten in den Kopf geschossen worden. Das austretende Geschoss hatte ihr, wie in solchen Fällen üblich, die gesamte Stirn weggerissen. Sie war gestorben, dachte Pekkala, als sie versucht hatte, ihre Kinder vor den Kugeln der Mörder zu schützen.
Sie alle waren auf der Stelle tot gewesen. Pekkala versuchte daraus so etwas wie Trost zu schöpfen.
Ihm fiel auf, dass die Frauen anscheinend keinen Widerstand geleistet hatten. Die Schüsse waren sorgfältig plaziert, was nicht möglich gewesen wäre, wenn sich die Opfer zur Wehr gesetzt hätten.
Pekkala kam zum letzten Leichnam.
Die Batterien seiner Taschenlampe wurden immer schwächer. Der Gedanke, sie könnte ganz erlöschen, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn.
Der letzte Tote war ein Mann. Er lag auf der Seite, durch das Gewicht der anderen Leichen, die man auf ihn geworfen hatte, waren ihm teilweise die Knochen gebrochen worden. Brustkorb und Schlüsselbein waren eingesackt. Unter ihm war der Boden schwarz und ölig.
Der gesamte Körper war mit einer trockenen, gelblich -braunen Schimmelschicht überzogen. Die Knöpfe ragten wie kleine Pilze aus dem Stoffgewebe. Pekkala fuhr mit dem Daumen über den Staub auf der Gürtelschnalle: Der doppelköpfige Adler der Romanows kam zum Vorschein.
Der linke Arm, der aus dem Leichenhaufen herausgestanden hatte, war – wahrscheinlich aufgrund des Sturzes – ebenfalls gebrochen. Der rechte Arm lag angewinkelt vor dem Gesicht, als hätte er versucht, es abzuschirmen. Hatte er den Sturz überlebt und versucht, sich vor den Leichen zu schützen, die nach ihm in die Tiefe geworfen wurden?
Zu seiner Reithose und den hohen Stiefeln trug der Tote eine
Gymnastiorka,
die allerdings so gearbeitet war, dass sie vorn nicht mit Knöpfen, sondern mit Häkchen zu verschließen war. Der
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