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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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von Schuhleder angenommen und war bemerkenswert gut erhalten, verfiel aber erstaunlich schnell, nachdem die Polizei ihn abgenommen hatte.
    Solange die Leichen hier unten waren, blieben sie erhalten; würde man sie nach oben schaffen, würden sie in kürzester Zeit zerfallen. So war er froh, dass er vorerst nichts unternehmen musste, bis eine entsprechend ausgestattete Bergungsmannschaft eintraf.
    Pekkala berührte zunächst nichts.
    Ganz oben auf dem Haufen erkannte er eine Frau. Sie lag auf dem Rücken und hatte beide Arme von sich gestreckt. Sie hätte allein durch den Sturz sterben müssen, aber er konnte sehen, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war. Eine Kugel hatte ihr den Schädel zertrümmert, sie war zwischen Augen und Nasenwurzel eingetreten und hatte den Teil des Gehirns zerstört, der als
medulla oblongata
bezeichnet wurde. Die Frau war auf der Stelle tot gewesen. Der Schütze musste genau gewusst haben, was er tat.
    Aber es ließ sich noch mehr feststellen. Wie Wassilejew ihm eingetrichtert hatte, sagte die Art und Weise, wie jemand getötet wurde, sehr viel über den Mörder aus. Selbst wenn das Opfer schrecklich verunstaltet war – meist aufgrund von Messerstichen –, so vermieden die meisten Täter doch, dem Gesicht Schaden zuzufügen. Wer Schusswaffen gebrauchte, gab oft mehrere Schüsse ab, häufig auf den Brustkorb. War der Täter unerfahren im Umgang mit Pistolen, wiesen die Leichen mehrere zufällig verteilte Einschüsse auf, da der Schütze in der Regel die Ungenauigkeit dieser Waffe unterschätzte. Pekkala wusste von Opfern, die entkommen konnten, obwohl aus kürzester Entfernung auf sie angelegt worden war.
    Morde von erfahrenen Schützen wurden gewöhnlich als Hinrichtung eingestuft. Auch sie hinterließen ihre ganz eigene Signatur. Am Hinterkopf, auf Höhe der Ohren, liegt ein kleiner Knochenwulst, die
Protuberantia occipitalis externa.
Wer zum Mörder ausgebildet wurde, lernte, den Lauf der Waffe genau hier anzulegen; so reichte ein einziger Schuss, um jemanden zu töten. In der Anfangsphase der Revolution waren auf beiden Seiten viele solcher Hinrichtungen durchgeführt worden. Die Mörder hatten ihre Opfer mit dem Gesicht nach unten einfach auf Feldern, in Gräben oder Schneewehen liegen lassen, die Hände waren auf den Rücken gebunden, die Stirn war durch das austretende Geschoss weggerissen worden.
    Mit ein Grund für diese Methode lag darin, dass der Henker seinem Opfer nicht ins Gesicht sehen musste. Der Mörder dieser Frau, die jetzt vor Pekkala lag, musste allerdings direkt vor ihr gestanden haben – ein Täter also, der als ganz besonders kaltblütig eingestuft werden konnte.
    Bereits jetzt versuchte er sich ein Bild von dem oder, wie er annahm, den Mördern zu machen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit durfte es sich um Männer gehandelt haben. Frauen wurden bei solchen Hinrichtungen kaum eingesetzt, auch wenn es Ausnahmen gab. Die Roten hatten in ihren Todesschwadronen einige wenige, die sich sogar als blutrünstiger erwiesen hatten als ihre männlichen Kameraden. Er musste an die bolschewistische Attentäterin Rosa Schwartz denken, die für den Tod von Hunderten zaristischer Offiziere verantwortlich war. Später wurde sie zur Nationalheldin erklärt und bereiste als »Rote Rosa« das Land – angetan mit einem weißen Kleid und einem Strauß Rosen wie eine Jungfrau an ihrem Hochzeitstag. Ein weiteres Detail, das auf Männer als die Mörder schließen ließ, war die Tatsache, dass sämtliche Schädel Austrittsöffnungen aufwiesen. Das deutete auf eine großkalibrige Pistole hin. Frauen, selbst jene in den Todesschwadronen, benutzten in der Regel kleine Kaliber.
    Pekkala begann die Kleidung zu untersuchen, hielt die Taschenlampe nah an die Leiche, damit er den Stoff betrachten konnte. Als Erstes fielen ihm die winzigen Perlmuttknöpfe am Kleid auf. Sie mussten früher einmal in einem kräftigen Rot gewesen sein, was jetzt zu einem fleckigen Rosa verblichen war. Ihm war elend zumute. Das waren Kleider von wohlhabenden Leuten. Gewöhnliches Volk konnte sich nur Knöpfe aus Bein oder Holz leisten.
    Lange, zerzauste Haarsträhnen fielen über die Kleidung, an den nackten Armen waren Stellen zu erkennen, an denen sich das Körperfett zu Adipocire umgewandelt hatte, jene seifige, gräulich gelbe Substanz, die als Leichenwachs bekannt war.
    Er entdeckte Schuhe aus verzogenem, verschrumpeltem Leder, die kleinen Nägel, die sie einst zusammengehalten hatten, ragten nun wie

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