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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Kragen war mit zwei breiten silbernen Brokatbändern verziert. Der gleiche silberne Brokat säumte auch den ursprünglich grün-braunen Rock, der jetzt die Farbe eines verfaulenden Apfels hatte.
    Er hatte diesen Rock schon einmal gesehen. Kein Zweifel: Vor ihm lag die Leiche des Zaren. Der Monarch hatte entsprechend den diversen Gattungen des russischen Militärs Dutzende von Uniformen besessen. Diese Uniform, die er zur Inspektion der Garderegimenter anlegte, gehörte zu den bequemsten und damit auch zu seinen Lieblingskleidern.
    Vier Schusswunden waren in der Brust deutlich erkennbar. Pekkala betrachtete die verblassten Blutflecke. Am Stoff waren Schmauchspuren zu sehen, was darauf hinwies, dass die Schüsse aus extrem kurzer Entfernung abgegeben worden waren. Vorsichtig nahm Pekkala den Arm des Toten von dessen Gesicht und erwartete, ein zerschmettertes Gesicht zu sehen. Überrascht stellte er fest, dass dem nicht so war. Keine Kugel hatte die
medulla oblongata
durchdrungen. Verwirrt starrte er auf die Überreste des ordentlich gestutzten Barts, die Vertiefung, die einst die Nase gewesen war, die verschrumpelten und über die kräftigen, geraden Zähne zurückgezogenen Lippen.
    Unwillkürlich wich Pekkala zurück und sah nach oben, wo sich im Schachteingang die samtene Scheibe des Himmels abzeichnete. In diesem Augenblick sah Pekkala durch die Augen des Zaren die letzten Sekunden seines Lebens, als er hier auf dem Boden des Bergwerksschachts gelegen hatte. Von weit oben stachen Lichtstrahlen auf ihn ein, brachen sich an den feuchten Wänden, überall um ihn herum glitzerten Regentropfen. Und dann sah er die Umrisse seiner Frau und seiner Kinder, die auf ihn herabtaumelten, die Finger wie die Spitzen von Vogelschwingen gespreizt, die Kleider flatternd und schlagend. Pekkala spürte regelrecht, wie sie ihn durchbohrten, und in ihrem Gefolge brach die Nacht herein wie ein schwarzer Komet; er hörte ihre Knochen wie Glas splittern.
    Er schüttelte den Alptraum ab und konzentrierte sich auf die Arbeit. Warum, fragte er sich, hatte der Mörder die Frauen per Kopfschuss getötet, das Gesicht des Zaren aber unversehrt gelassen? Der umgekehrte Fall wäre einleuchtender gewesen, vor allem, wenn der Mörder ein Mann gewesen war, wie er vermutete. Hätte man in diesem Fall also nicht annehmen müssen, dass er seinen Geschlechtsgenossen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte?
    Plötzlich beschleunigte sich sein Herzschlag. Er war so auf diese Details konzentriert gewesen, dass er eine weitaus wichtigere Tatsache glatt übersehen hatte.
    Der Leichnam des Zaren war der letzte im Schacht.
    Pekkala ließ den Blick noch einmal aufmerksam über die aufgereihten Frauenleichen schweifen.
    Er hatte sich nicht geirrt. Eine Leiche fehlte.
    Alexej war nicht unter den Toten.
    Jedes Mal, wenn Pekkala an den Jungen dachte, hatte er einen Kloß im Hals. Alexej war ihm von allen Familienmitgliedern immer der liebste gewesen. Die Töchter waren charmant, besonders die älteste, Olga, sie waren auf ihre schwermütige Art sehr schön, aber alle vier hatten sich ihm gegenüber immer sehr distanziert verhalten und ihn meistens ignoriert. Pekkala machte sie nervös, wenn er in seinem schwarzen Mantel über sie aufragte und scheinbar immun war gegen die Albernheiten und die Oberflächlichkeit, die den Großteil ihres Lebens bestimmten. Außerdem mangelte es ihm an der Kultiviertheit, die den endlosen Besucherströmen eigen war, die die Familie Romanow empfing. Die elegant gekleideten Barone, Fürsten und Herzöge – irgendeinen Titel trug jeder von ihnen –, die ihre modischen Bärte zwirbelten und ihre Reden mit französischen Ausrufen garnierten, sahen in Pekkala eben nichts weiter als einen grobschlächtigen Kerl, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.

Scheren Sie sich nicht um sie, Pekkala«, sagte Alexej.
    Nach Berichten von einer Explosion in den Straßen von Petrograd war Pekkala vom Zaren nach Zarskoje Selo, ins Kaiserliche Dorf südlich der Hauptstadt, bestellt worden.
    Als er das Arbeitszimmer des Zaren im Nordflügel des Alexanderpalasts betrat, stürmte eine Menschentraube an ihm vorbei nach draußen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Der Zar saß an seinem Schreibtisch.
    Neben ihm saß Alexej, um die Stirn trug er einen weißen Verband mit einer von Rasputin verschriebenen Kräutertinktur.
    Alexejs Miene war immer die gleiche – freundlich und traurig zugleich. So oft hatte er schon nahe davorgestanden, an seiner

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