Roter Zar
Boden.
Kirow beugte sich zum zerbrochenen Fenster vor. »Haut ab!«, schrie er in die Dunkelheit. »Verschwindet!«
»Was haben sie reingeworfen?«, fragte Pekkala.
»Ein Stuhlbein«, antwortete Pekkala.
Pekkala stockte der Atem.
Kirow hielt eine deutsche Stielhandgranate hoch. Sie bestand aus einem grauen Metallzylinder von der Größe einer Konservendose, aus dem ein Holzstab ragte, der etwas kürzer war als der Unterarm eines Mannes und dem Werfer erlaubte, die Granate relativ weit zu schleudern.
»Was?«, sagte Kirow nur. Er sah zu Pekkala, dann zu dem Ding in seiner Hand, und plötzlich dämmerte es ihm. »O mein Gott«, flüsterte er.
Pekkala riss Kirow die Granate aus der Hand und schleuderte sie durch die Fensterscheibe nach draußen. Noch in der gleichen Bewegung zog er Kirow mit sich auf den Boden.
Klappernd landete die Handgranate im Hof.
Pekkala presste sich die Hände auf die Ohren, öffnete zum Druckausgleich den Mund und wartete auf die Detonation. Wenn die Männer draußen richtig ausgebildet waren, würden sie sofort nach der Explosion ins Haus stürmen. Pekkala schob sich so dicht wie möglich an die Wand, um die Verletzungsgefahr zu verringern, wenn die Fenster und die Tür aufgesprengt würden. Handgranaten wie diese hatten einen auf sieben Sekunden eingestellten Zeitzünder. Pekkala und Kirow warteten und zählten die Sekunden, aber die Explosion blieb aus. Überzeugt, einen Blindgänger vor sich zu haben, stand Pekkala schließlich auf und sah in den Hof hinaus. Glitzernd fiel das Mondlicht auf die Glasscherben und die Windschutzscheibe des Emka und tauchte den Hof in geometrische Muster aus bläulichem Licht und scharfkantigen schwarzen Schatten.
Er stupste Kirow mit dem Fuß an. »Gehen wir«, sagte er.
Vorsichtig gingen die beiden Männer in den Hof hinaus. Der Himmel war sternenklar.
Das Tor stand offen. Als sie sich hingelegt hatten, war es geschlossen gewesen.
»Sollen wir die Verfolgung aufnehmen?«, fragte Kirow.
Pekkala schüttelte den Kopf. »Wenn ihnen klarwird, dass die Granate nicht detoniert ist, kommen sie vielleicht zurück. Besser, wir warten hier auf sie.«
Kirow ging seine Waffe holen. Neben dem Schuppen entdeckte Pekkala die Handgranate, gleich daneben, wie er beim Näherkommen bemerkte, lag eine kleine weiße Murmel. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es sich dabei um den Abreißknopf handelte. Üblicherweise saß auf dem Stielende eine Gewindeschutzkappe, sie musste abgeschraubt werden, damit der im Stiel verstaute Abreißknopf betätigt und die Granate scharf gemacht werden konnte. Wer also diese Handgranate geworfen hatte, hatte zwar die Schutzkappe entfernt, aber nicht die Reißschnur gezogen.
»Vielleicht war es als Warnung gedacht«, sagte Kirow, als ihm Pekkala erklärt hatte, warum die Handgranate nicht detoniert war.
Pekkala wog die Granate in der Hand und schlug sich mit der Sprengkapsel gegen die Handfläche.
Schließlich vereinbarten sie, dass Kirow vor dem Haus Wache halten sollte, während Pekkala in der Küche blieb. Sie löschten sämtliche Lichter, er legte den Webley und die Handgranate vor sich auf den mit winzigen Glassplittern übersäten Tisch und starrte durch die zerborstene Fensterscheibe hinaus in die Dunkelheit, bis ihm Schatten vor den Augen tanzten.
In der Morgendämmerung tauchte Anton auf. Er marschierte schnurstracks zum Brunnen und betätigte den elegant gebogenen Pumpenschwengel. Die Pumpe gab ein schrilles Kreischen von sich.
Kurz darauf ergoss sich ein silberner Wasserschwall aus der Pumpe. Anton steckte den Kopf darunter, glitzernd spritzte ihm das Wasser über die Schultern. Dann strich er sich bei geschlossenen Augen und geöffnetem Mund mit beiden Händen die Haare zurück.
In diesem Augenblick wurde Pekkala klar, dass er diese Pumpe schon mal gesehen hatte.
Auf einem Bild in einer
Prawda,
die zusammen mit seiner Winterration am Endes des Waldwegs in Krasnagoljana zurückgelassen worden war.
Der Zar und sein Sohn Alexej schnitten mit einer großen, von zwei Männern zu bedienenden Säge Holz. Neben ihnen war Holz aufgeschichtet. Und im Hintergrund war die Pumpe zu sehen. Das Bild musste während der Gefangenschaft des Zaren in diesem Haus aufgenommen worden sein. Der Monarch trug einen einfachen Kittel, wie ihn vermutlich auch seine Bewacher getragen hatten, Alexej dagegen einen schweren Mantel mit Pelzkappe, der gegen die Kälte schützte, die sein Vater überhaupt nicht zu spüren schien.
Als
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