Roter Zar
fragte Pekkala.
»Nichts«, antwortete Kirow und wischte sich den Holzstaub von den Händen. Mit einem Nicken deutete er auf das
Kalevala.
»Wollen Sie mir nicht aus Ihrem Buch vorlesen?«
»Sie werden nichts verstehen, wenn Sie kein Finnisch sprechen.«
»Lesen Sie mir trotzdem vor.«
»Ich fürchte, es steht kaum auf der Liste der Bücher, die die Zustimmung der Kommunistischen Partei finden.«
»Wenn Sie den Mund halten, verspreche ich, werde ich auch nichts sagen.«
Pekkala zuckte mit den Schultern. »Gut.« Er schlug es auf und begann zu lesen. Die finnischen Wörter klangen im ersten Moment wie ein Donnergrollen in seinen Ohren. Pekkala las zwar ständig in dem Buch, sprach den Text aber nur äußerst selten laut aus. Außerdem war es Jahre her, dass er sich in seiner Muttersprache unterhalten hatte. Sogar sein Bruder benutzte sie nicht mehr. So klang das Finnische für ihn mittlerweile fern und vertraut zugleich, wie eine Erinnerung, die man sich von einem anderen Menschen ausgeliehen hatte.
Nach einer Minute hielt Pekkala inne und sah zu Kirow auf.
»Ihre Sprache«, sagte Kirow, »klingt, als würde man Nägel aus einem Brett ziehen.«
»Ich versuche es mal als Kompliment aufzufassen.«
»Was haben Sie mir vorgelesen?«, fragte Kirow.
Pekkalas Blick ging zurück zum Buch, er starrte auf die Worte, die sich langsam verwandelten und in einer Sprache zu ihm redeten, die Kirow verstehen konnte. Er erzählte Kirow die Geschichte des Wanderers Väinämöinen, der Pohjola, die Jungfrau des Nordlands, dazu überreden wollte, von dem Regenbogen, auf dem sie lebte, herabzukommen und ihn auf seinen Wanderungen zu begleiten. Bevor sich Pohjola darauf einließ, stellte sie ihm allerdings unmögliche Aufgaben wie zum Beispiel ein Ei zu verknoten, ein Pferdehaar mit einem stumpfen Messer zu spalten oder Birkenrinde von einem Stein zu schaben. Bei der letzten Aufgabe – er sollte aus Holzspänen ein Schiff bauen – schlug sich Väinämöinen mit der Axt ins Bein. Die Blutung konnte nur durch einen Zauberspruch gestillt werden. So machte sich Väinämöinen auf den Weg, um einen Zauberkundigen zu finden.
»Sind alle Geschichten so seltsam wie diese?«, fragte Kirow.
»Sie sind nur seltsam, bis man sie versteht«, erwiderte Pekkala. »Und dann kommt es einem vor, als würde man sie sein Leben lang kennen.«
»Haben Sie Alexej diese Geschichte auch vorgelesen?«, fragte Kirow.
»Ich habe ihm einige vorgelesen, aber nicht diese. Hätte er von einem Zauberspruch gehört, hätte er vielleicht Hoffnung geschöpft. Aber die gab es für ihn nicht.« Noch im selben Moment fragte er sich, ob seine Hoffnung, Alexej lebend zu finden, nicht ebenso illusorisch war wie ein Zauberspruch gegen dessen Hämophilie.
Früh am nächsten Morgen klopfte es an die Tür. »Majakowski!«, stöhnte Kirow, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb. »Hoffentlich hat er mehr für uns dabei als bloß Kartoffeln.«
»Das ist nicht Majakowski«, entgegnete Pekkala. »Majakowski kommt immer durch den Hof.« Pekkala stand auf und musste über den irgendwann in der Nacht heimgekommenen Anton hinwegtreten.
Als er die Tür öffnete, stand Kropotkin davor. Der Polizeichef trug seine blaue Dienstuniform, an der allerdings kein einziger Knopf geschlossen war. Auch von der Uniformmütze war nichts zu sehen. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben, und mit seinem glattgekämmten Haaren und dem kantigen Kinn sah er aus wie eine Dogge.
Kropotkin war der schlampigste Polizist, der Pekkala jemals untergekommen war. Unter dem Zaren wäre er auf der Stelle gefeuert worden, wenn er es gewagt hätte, so aufzutreten.
»Für Sie ist letzten Abend ein Anruf gekommen«, sagte Kropotkin.
»Von wem?«
»Der Irrenanstalt in Wodowenko. Katamidse sagt, ihm sei was eingefallen. Etwas, wonach Sie ihn anscheinend gefragt haben. Ein Name.«
Pekkalas Herzschlag beschleunigte sich. »Ich werde sofort aufbrechen.«
Pekkala hatte schon fast die Tür geschlossen, als Kropotkin noch anfügte: »Das habe ich Ihrem Tschekisten auch schon erzählt. Ich bin ihm letzte Nacht in der Schänke begegnet. Wahrscheinlich war er zu betrunken, um überhaupt zu kapieren, was ich von ihm wollte. Deswegen dachte ich, ich komm lieber mal vorbei, um es Ihnen persönlich zu sagen.«
»Ich bin froh, dass Sie es getan haben«, antwortete Pekkala.
Kropotkin klimperte mit dem Kleingeld in der Hosentasche. »Hören Sie, Pekkala, ich weiß, wir haben uns anfangs etwas
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