Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
etwas Besonderes bieten wollte, dann hätte er wohl kaum etwas Exklusiveres finden können als Ortolan.
Erst jetzt verstand Kieffer, wie minutiös sein Gesprächspartner dies alles geplant hatte. Foie gras, getrüffelter Kapaun, frische Austern – das war alles nur Vorgeplänkel gewesen für den höchsten Genuss, den die französische Küche zu bieten hatte. Oder für die widerlichste Barbarei, die Menschen im Namen guten Essens begingen, je nach Standpunkt.
Der Ortolan war ein Singvogel, in Größe und Aussehen einem Spatzen nicht unähnlich. Die Franzosen im Südwesten fingen diese kleinen Geschöpfe in Netzen, wenn sie im Frühjahr aus Afrika zurückkehrten. Dann sperrte man die Vögelchen mit einer Unmenge Hirsefutter in eine dunkle Kammer. Dort fraßen die Tiere ununterbrochen. Wenn man sie zwei Wochen später aus ihrem Gefängnis herausholte, glichen sie gefiederten Fettklumpen. Nun wurden die Ortolane getötet, indem man sie ertränkte – jedoch nicht in Wasser oder Wein, sondern in feinstem Armagnac. Danach wurden sie gerupft und im Ofen für einige Minuten goldbraun gebacken.
»Ich hatte immer gedacht, der Fang von Ortolanen sei seit über einem Jahrzehnt verboten, weil es kaum noch welche gibt«, wandte Kieffer ein.
»Sie sind hier in Frankreich, mein Freund. Wir sind, wie Sie wissen sollten, hier alle Dialektiker, vielleicht sogar Pharisäer. Ja, es ist illegal, Ortolane zu verkaufen. Aber wenn man irgendwo welche finden sollte und sie dann unter Freunden verzehrt, wie wir es gleich tun werden, dann ist das völlig legal.«
Der Kellner stellte nun eine kleine Cassouletform vor Kieffer. Darin befand sich eine große, ungeschälte Kartoffel, deren Oberteil sich abnehmen ließ. Kieffer entfernte es. Darunter lag, wie in einem Sarkophag, der Ortolan. Er war in etwa so groß wie eine Kinderfaust. Seinegetrimmten Flügel und die Beinstümpfe hatte das Tier von sich gestreckt, die Äuglein schienen geschlossen. Das Köpfchen hing schlaff zur Seite, die Haut des Singvogels schimmerte ölig-golden.
»Sie müssen ihn ganz in den Mund schieben«, erklärte Allégret. »Das Hinterteil zuerst. Den Kopf können Sie dann abbeißen, aber kauen Sie nicht auf dem Ortolan herum, sondern zerdrücken Sie ihn ganz langsam am Gaumen. Und«, er zeigte auf eine große bestickte Serviette, die ein Kellner rechts von Kieffer platziert hatte, »benutzen Sie das hier. Dann geht nichts von dem köstlichen Parfum des Ortolans verloren.«
Kieffer hatte von der Sache mit dem Tuch gehört. Man legte es sich über den Kopf, wie ein Erkälteter, der Kamillendampf inhalieren wollte. Dass man den Singvogel unter einer Serviette verspeiste, um die flüchtigen Aromen zu bewahren, war freilich nur eine Erklärung für das Ritual. Die andere lautete, dass der ganze Akt so barbarisch war, dass er Gott selbst missfiel. Deshalb versteckte sich der schuldbewusste Gourmet unter einem Leinentuch, damit niemand seines schrecklichen Mahls ansichtig wurde.
Allégret war bereits unter seinem Tuch verschwunden. Kieffer konnte hören wie der Bürgermeister ächzte und schnaufte. Er nahm sein Messer und trennte den kleinen Kopf des Vogels von dessen aufgedunsenem Leib. Er betrachtete ihn eine Weile. Dann stülpte er sich das Tuch über und schob den Ortolan in seinen Mund. Als er mit der Zunge dagegen drückte, verbrannte er sich fast den Gaumen. Nur durch heftiges Ein- und Ausatmen gelang es ihm, den Vogel, der seine Mundhöhle fast völlig ausfüllte, etwas abzukühlen.
Kieffer fühlte, wie sich sein Mund mit dem Geschmack von Fett und den Säften aus dem Inneren des Vogels füllte. Er wusste, dass der Koch den Ortolan nicht ausgenommen hatte. Wie jene kleinen Fische, die man in seinem Heimatland für Fëschfriture vun der Musel verwendete, war das Tier intakt, mit all seinen Organen und Knochen, die freilich so winzig waren wie die Gräten einer Sardine.
Als er mit der Zunge etwas mehr Druck auf den weichen warmen Fleischbrocken ausübte, spürte er, wie sich ein starker Armagnacgeschmack in seinem Mund breitmachte. Der Druck hatte dazu geführt, dass die winzigen Organe des Ortolans, die sich während seines Todeskampfs mit dem Weinbrand vollgesogen hatten, nun barsten – sein Magen, seine Lunge, sein kleines Herz. Der Vogel glitt leicht nach hinten, in Richtung Rachen. Kieffer musste einen Würgreflex unterdrücken.
Er atmete noch einmal tief durch, soweit das überhaupt möglich war. Dann schluckte er. Als er das Tuch vom Kopf nahm,
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