Rotes Gold: Ein kulinarischer Krimi. Xavier Kieffers zweiter Fall
Zigarettenautomat. Er zog sich eine Packung Ducal, trat wieder vor das Gebäude und rauchte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Garten des »Le Comte« angesichts der frühen Stunde außergewöhnlich gut besetzt war. Nein, das war falsch, er war brechend voll. Seltsam erschien ihm das, denn hierher kam man für gewöhnlich zu einem ausgedehnten Mëttegiessen oder einen Apéro. Morgens war der Laden normalerweise verwaist, bis auf ein paar Clausener, die ihren Kaffee schlürften. Kieffer inspizierte das Publikum. Die Gäste waren fast alle um oder unter dreißig und definitiv nicht aus der Gegend. Einige sahen wie Geschäftsleute aus, die es vom Kirchberg herabgeweht hatte. Andere ähnelten jenen T-Shirt-Hipstern, die er neulich im »Deux Eglises« gesehen hatte. Er zog an seiner Ducal und ging nachdenklich zum Ausgang. Dort schaute Kieffer noch einmal auf die Speisekarte, die jedoch unverändert schien. Nun erst fiel ihm neben dem Ausgang ein kleines weiß-schwarzesSchild auf. Es klebte auf dem Glaskasten, der die Menütafel beherbergte. Darauf stand: »Internet available«. Er musterte die Gäste. In der Tat klickten die meisten auf tragbaren Computern herum oder starrten versunken auf kleine rechteckige Geräte, deren Glasoberflächen sie von Zeit zu Zeit fast zärtlich mit den Fingern streichelten.
Kieffer schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg. Er überquerte die Alzettebrücke und lief die Avenue Mansfeld hinauf, den Kanal links von sich. Vor ihm erhob sich die riesige, einem Aquädukt ähnelnde Eisenbahnbrücke, die Clausen überspannte. Heute käme niemand mehr auf den Gedanken, Überführungen so zu bauen, dass den Anwohnern im Viertelstundentakt Züge über die Köpfe donnerten. Aber bis ins 20. Jahrhundert waren die Faubourgs der schmutzige Unterbauch Luxemburgs gewesen, eine Ansammlung von Fabriken und Abdeckereien, zwischen denen zufällig auch Menschen hausten. Nur bitterarmes Volk hatte dort im Gronn oder in Clausen gewohnt, und kein Stadtplaner hatte sie je nach ihrer Meinung gefragt. Kurz vor der Brücke bog Kieffer in die Rue Jules Wilhelm ein, eine kleine gewundene Straße, die sich den Hang hinaufquälte, der den Fuß des Kirchbergs bildete. Er liebte diesen letzten Teil seines Wegs, weil er von hier einen Panoramablick über seine ganze Stadt hatte. Direkt unter ihm lag Clausen mit seinen kleinen Häuschen und Türmchen, dem Fluss und der alten Mouselbrauerei. Dahinter die Abbaye de Neumünster und sein Wohnviertel Grund, das er zwar nicht sehen, aber doch erahnen konnte. Und in der Ferne erblickte er hoch oben auf dem Felsen die Oberstadt, mit Altstadt und Notre-Dame. Er riss sich von dem Anblick los und lief weiter die Straße hinauf, bis hinter einerBiegung zu seiner Linken am Hang das alte Festungsgebäude mit dem schiefen Holzschindeldach auftauchte, welches das »Deux Eglises« beherbergte.
Kieffer schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Für zwölf hatte er Pekka Vatanen zum Essen bestellt, um mit ihm über die Ereignisse der vergangenen Tage zu reden. Der Finne war ein Spötter, ein Schürzenjäger und ein fürchterlicher Suffkopp; er war aber auch Kieffers bester Freund und besaß, trotz der großen Menge Rivaner, die sein schlaksiger Körper allabendlich aufsog, einen scharfen Verstand und erkannte Zusammenhänge, die andere nicht sahen. Außerdem hatte Vatanen oben auf dem Kirchberg seit 15 Jahren mit EU – Landwirtschaftspolitik zu tun. Kieffer erinnerte sich vage, dass es eine europäische Fischereipolitik gab. Vielleicht konnte der Finne ihm darüber etwas erzählen, eventuell sogar über Thunfischfang.
Kieffer ging zunächst in der Küche die Bestelllisten durch und überprüfte das Reservierungsbuch. Er seufzte. Es würde heute Abend schon wieder voll werden. Einige der Leute kannte er, bei einer der Vorbestellungen runzelte er jedoch die Stirn. Es handelte sich um eine Reisegruppe mit 20 Personen.
»Claudine, kannst du kurz mal kommen?«
Die Souschefin begutachtete gerade mehrere riesige Töpfe, in denen verschiedene Fonds vor sich hinsimmerten. Sie nickte und kam zu ihm herüber.
»Was gibt’s?«
»Diese Reservierung von Intertours – hast du die entgegengenommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das war Jacques, glaube ich. Was ist damit?«
»Ich würde gerne wissen, ob das 20 Italiener, 20 Russen oder 20 Japaner sind.«
»Macht das denn einen Unterschied?«, fragte sie.
Natürlich machte es einen Unterschied. Kieffer hatte, anders als
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