Rotkäppchen und der böse Wolf
steht’s mit den Frauen im Sans Souci?«, fuhr er fort. »Irgendetwas Verdächtiges?«
»Die Besitzerin scheint mir ein bisschen merkwürdig.«
»Mrs Perenna?«
»Ja. Sie wissen nichts über sie?«
»Ich könnte allenfalls Informationen über sie einholen«, erwiderte Grant langsam, »aber wie gesagt, es wäre ein Wagnis.«
»Dann unterlässt man es wohl besser. Sie ist die einzige, die mir verdächtig vorkommen könnte. Dann gibt es dort noch eine junge Mutter, eine zapplige alte Jungfer, die hirnlose Frau des Hypochonders und eine alte Irin, ein wahrer Kinderschreck. Machen alle einen sehr harmlosen Eindruck. Wenigstens auf den ersten Blick.«
»Sind das alle?«
»Nein. Außerdem ist noch Mrs Blenkensop da – vor drei Tagen angekommen.«
»Und?«
»Mrs Blenkensop ist meine Frau«, sagte Tommy.
»Was?« Vor Überraschung vergaß Grant, seine Stimme zu dämpfen. Er fuhr herum, enttäuscht und ärgerlich. »Beresford, ich hatte Ihnen gesagt, Ihre Frau dürfe von der ganzen Geschichte kein Wort wissen!«
»Ganz richtig, Sir; und von mir hat sie auch nichts erfahren. Aber wenn Sie einen Augenblick zuhören wollen…«
Tommy berichtete mit kurzen Worten den Sachverhalt. Er vermied Grants Blick und gab sich verzweifelt Mühe, sich seinen geheimen Stolz nicht anmerken zu lassen.
Als er zu Ende erzählt hatte, wartete er schweigend. Dann kam ein merkwürdiges, unterdrücktes Geräusch von Grant. Grant lachte, lachte – er konnte gar nicht mehr aufhören.
»Hut ab vor dieser Frau!«, sagte er schließlich. »Von der Sorte findet man eine unter Tausenden.«
»Ganz meine Meinung«, stimmte Tommy zu.
»Easthampton wird sich ja amüsieren. Er hat mich gleich gewarnt, etwas ohne sie zu unternehmen. Er meinte, sie würde mich überlisten, und ich habe es nicht glauben wollen. Aber da sieht man wieder, wie verdammt vorsichtig wir sein müssen. Ich war doch wirklich auf der Hut. Hatte mich vorher genau vergewissert, dass niemand außer Ihnen und Ihrer Frau in der Wohnung war. Ich habe natürlich auch die Stimme im Telefon gehört und dann… ja, dann bin ich auf den uralten Trick mit der zugeworfenen Tür hereingefallen. Dumm ist sie wirklich nicht, Ihre Frau.«
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Bestellen Sie ihr von mir, dass ich zerknirscht bin.«
»Gut«, sagte Tommy. »Und jetzt arbeitet sie also mit uns?«
Mr Grant schnitt eine ausdrucksvolle Grimasse.
»Die arbeitet mit, ob wir damit einverstanden sind oder nicht. Sie können ihr ausrichten, die Abteilung würde es sich zur Ehre anrechnen, wenn sie bereit wäre, in dieser Sache für uns zu arbeiten.«
»Das werde ich ihr wörtlich bestellen«, sagte Tommy mit einem breiten Grinsen.
Grant wurde wieder ernst.
»Sie können sie vermutlich nicht überreden, abzureisen und zuhause zu bleiben?«
»Sie kennen Tuppence noch nicht!«
»Mir scheint, ich fange an, sie kennen zu lernen. Ich fragte Sie, weil… kurz und gut, die ganze Geschichte ist sehr gefährlich. Wenn man Ihnen oder Ihrer Frau hinter die Schliche kommt…« Grant beendete den Satz nicht.
»Darüber bin ich mir im Klaren, Sir«, sagte Tommy ernst.
»Und nichts könnte sie bewegen, der Gefahr aus dem Weg zu gehen?«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich das wünsche«, murmelte Tommy langsam. »Was wir unternehmen, das machen wir gemeinsam – so war es stets.«
4
K urz vor dem Abendessen betrat Tuppence den Salon im Sans Souci. Nur Mrs O’Rourke war da; ihre monumentale Gestalt thronte wie ein ungeheurer Buddha am Fenster.
Sie begrüßte Tuppence mit überschwänglicher Herzlichkeit. »Oh, ist das nicht die liebe Mrs Blenkensop! Sie machen es geradeso wie ich, Sie sitzen auch gern vor dem Essen ein paar Minuten in Ruhe und Frieden hier. Hübsch ist der Salon, aber nur bei gutem Wetter, wenn die Fenster offen sind, sonst riecht es hier immer nach Küche. Setzen Sie sich doch zu mir, Mrs Blenkensop. Was haben Sie bei dem schönen Wetter unternommen? Wie gefällt Ihnen Leahampton?«
In Mrs O’Rourkes Nähe empfand Tuppence immer eine angstvolle Faszination. So hatte sie sich als Kind den Menschenfresser im Märchen vorgestellt. Die tiefe, raue Stimme, der Schnurrbart und sogar etwas Backenbart, die tief liegenden, zwinkernden Augen, die Überlebensgröße, das alles war der leibhaftige Kinderschreck.
Tuppence antwortete höflich, Leahampton gefalle ihr sehr gut, sie fühle sich hier sehr wohl. »Das heißt«, fügte sie melancholisch hinzu, »so wohl, wie man sich eben fühlen
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