Rotkäppchen und der böse Wolf
Sie waren übereingekommen, niemals in der Pension selbst etwas zu besprechen.
Mrs Blenkensop traf Mr Meadowes, der gerade einen kleinen Spaziergang über die Strandpromenade machte; sein Schnupfen schien sich gebessert zu haben. Sie nahmen auf einer der Bänke Platz.
»Also?«, fragte Tuppence.
»Ja«, sagte Tommy, »etwas habe ich herausbekommen. Himmel, war das ein Tag! Dauernd mit einem Auge am Schlüsselloch. Mein Nacken ist noch ganz steif.«
»Dein Nacken interessiert mich nicht«, meinte Tuppence gefühlsroh. »Fang an, erzähle!«
»Gut. Zuerst kamen natürlich die Mädchen und brachten das Zimmer in Ordnung. Mrs Perenna ging auch hinein – aber da waren die Mädchen noch drin, und sie kanzelte sie nur wegen irgendetwas ab und kam gleich wieder heraus. Und dann lief das kleine Ding, die Betty, hinein und kam mit ihrem Stoffhund wieder heraus.«
»Ja, schön. Und weiter.«
»Noch eine Person«, sagte Tommy langsam.
»Wer?«
»Carl von Deinim.«
»Oh!« Tuppence fühlte, dass ihr Herz sich zusammenzog. Also doch! »Wann?«, fragte sie.
»Während des Mittagessens. Er kam vorzeitig aus dem Esszimmer, ging zuerst in sein eigenes Schlafzimmer, dann schlich er leise über den Gang und in dein Zimmer. Er blieb fast eine Viertelstunde drin. Ich denke, das genügt«, schloss er nach einer bedeutsamen Pause.
Sie nickte.
Ja, es genügte. Das war ein Beweis. Was für Gründe konnte Carl von Deinim haben, in Mrs Blenkensops Schlafzimmer einzudringen und eine Viertelstunde drinzubleiben? Es gab nur einen Grund. Er hatte die Hand im Spiel, kein Zweifel. Aber dann war er ein hervorragender Schauspieler…
Wie er heute Früh mit ihr gesprochen hatte! Hatte nicht jedes Wort echt geklungen? Aber natürlich, mit der Wahrheit täuschte man den Gegner am leichtesten. Carl von Deinim war Patriot, er arbeitete für sein Vaterland. Man konnte und musste ihn achten – ja, aber auch bis aufs Blut bekämpfen.
»Es tut mir doch leid«, sagte sie langsam.
»Mir auch«, gab Tommy zu, »er ist so sympathisch.«
»Vielleicht«, sagte Tuppence, »wären wir beide, du und ich, in Deutschland zu etwas Ähnlichem fähig.«
Tommy nickte.
»Also«, fuhr Tuppence fort, »nun wissen wir ja ungefähr, woran wir sind. Carl von Deinim – und mit ihm vermutlich Sheila und ihre Mutter. Mrs Perenna hat wahrscheinlich alle Fäden in der Hand. Und dann ist da noch diese Ausländerin, die gestern mit Carl geredet hat. Ja, die gehört auch irgendwie dazu.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Wir müssen irgendwann Mrs Perennas Zimmer durchsuchen. Möglicherweise finden wir etwas, bekommen einen Fingerzeig. Und natürlich müssen wir sie beobachten – aufpassen, wohin sie geht, wen sie unterwegs trifft. Weißt du, Tommy, wie wäre es, wenn wir Albert kommenließen?«
Tommy überlegte.
Vor vielen Jahren hatten sie Albert als Pagen in einem Hotel kennen gelernt, und später hatte er manches waghalsige Abenteuer mit dem jungen Ehepaar Beresford geteilt. Schließlich war er ganz in ihre Dienste getreten und hatte gut und erfolgreich mit ihnen gearbeitet. Vor etwa sechs Jahren hatte er geheiratet und war jetzt der stolze Besitzer der Kneipe »The Duck and Dog« im Süden Londons.
»Albert wird begeistert sein«, fuhr Tuppence schnell fort. »Wir wollen ihn kommenlassen. Er kann in dem kleinen Wirtshaus beim Bahnhof wohnen und die Perennas für uns überwachen.«
»Und seine Frau?«
»Sie ist kürzlich mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Wales gezogen. Wegen der Luftangriffe. Es passt alles wie bestellt.«
»Ja, Tuppence, die Idee ist gut. Wir beide können ja nicht hinter der Frau herlaufen, das würde sofort auffallen. Albert ist gerade der Richtige. Nun etwas anderes: Wir müssen wohl auch sehen, was mit der so genannten Polin los ist. Sie hat mit Carl gesprochen und treibt sich dauernd hier herum. Vielleicht bekommen wir da noch was in die Hand.«
»Mir scheint, dass sie hierher kommt, um Botschaften zu bringen oder Aufträge entgegenzunehmen.«
»Bleibt vorläufig das Durchsuchen von Mrs Perennas Zimmer.«
»Wird nicht leicht sein, bei der Perenna zu stöbern. Wenn sie ausgeht, ist Sheila meistens da, und dann rennen Mrs Sprot und Betty dauernd im Treppenhaus herum, und Mrs O’Rourke sitzt oft in ihrem Zimmer dicht daneben.«
Tuppence dachte nach.
»Am besten wird es während des Mittagessens gehen.«
»Das hat Carl gestern auch gedacht.«
»Siehst du. Ich könnte Kopfweh vorschützen und mich in mein Zimmer zurückziehen.
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