Rotkäppchen und der böse Wolf
Aber nein, dann kommt vielleicht jemand auf den Gedanken, mich pflegen zu wollen. Warte, so wird es gehen: Ich komme vor dem Essen ganz leise ins Haus und gehe direkt in mein Zimmer, ohne etwas zu sagen. Später kann ich dann etwas von meinem Kopfweh erzählen.«
Tommy sah ernst und besorgt aus.
»Tuppence, wir müssen uns beeilen. Die Nachrichten heute klingen sehr schlecht. Wir müssen etwas herausbekommen, und zwar bald, sehr bald.«
Tommy hatte gerade einen Brief in den Kasten geworfen, adressiert an Mr Albert Batt, »The Duck and Dog«, Glarmorgan Street, Kennington.
Er kaufte noch eine der Zeitschriften, die den Anspruch erhoben, das englische Publikum über die wahren Hintergründe von allem und jedem aufzuklären, und schlenderte ganz harmlos zur Pension zurück.
»Hallo, Meadowes!«, hörte er plötzlich hinter sich rufen.
Commander Haydock saß in seinem Zweisitzer und winkte ihm zu. »Soll ich Sie nachhause fahren?«
Tommy dankte und stieg ein.
»Soso, Sie lesen dieses Mistblatt auch?«, fragte Haydock und deutete auf das scharlachrote Titelblatt der Inside Weekly News.
Mr Meadowes war ein bisschen beschämt, wie alle Leser dieses Blattes, wenn sie erwischt wurden.
»Schauderhafter Mist«, gab er zu, »aber manchmal wissen die Leute doch allerlei, was hinter den Kulissen vorgeht.«
»Und manchmal wissen sie gar nichts und schreiben reinen Blödsinn.«
»Stimmt.«
»Die Sache ist doch so«, sagte der Commander, »wenn ein Schwätzer Recht gehabt hat, behält man es; und die vielen Male, wo er nicht Recht gehabt hat, vergisst man.«
»Was halten Sie von den Gerüchten, dass Stalin nun doch eine Annäherung an uns sucht?«
»Wunschträume, mein Lieber, Wunschträume«, antwortete Haydock. »Die Russen sind schlau. Besser, man wartet ab. – Sie waren nicht wohl?«
»Ein Anfall von Heuschnupfen. Bekomme ich um diese Jahreszeit leider immer.«
»Na, wie steht’s jetzt? Können Sie schon wieder Golf spielen?«
Tommy sagte, dass er sogar große Lust dazu habe.
»Recht so. Wie wäre es mit morgen? Vielleicht gegen sechs?«
»Ja, sehr gern.«
»Gut. Abgemacht.«
Haydock bremste kurz vor der Tür der Pension.
»Was macht denn die schöne Sheila?«, fragte er dann.
»Es geht ihr ganz gut, glaube ich. Ich bekomme sie allerdings wenig zu sehen.«
Haydock lachte dröhnend.
»Möchten wohl mehr von ihr zu sehen bekommen, wie? Kann ich mir denken! Ein bildschönes Mädchen, aber verdammt spröde. Läuft auch ein bisschen viel mit dem deutschen Bengel herum. Verflucht unpatriotisch. Natürlich kann sie mit uns alten Knaben nichts mehr anfangen, aber gibt es nicht nette junge Engländer, so viele sie nur will? Ausgerechnet mit einem Deutschen muss sie sich einlassen! Gefällt mir gar nicht.«
»Geben Sie Acht«, sagte Mr Meadowes, »er kommt gerade hinter uns den Hügel herauf.«
»Meinetwegen kann er’s hören! Hoffentlich hat er alles gehört! Dem Herrn Baron da möcht’ ich gern mal den Hintern versohlen. Wäre er ein anständiger Kerl, dann würde er jetzt für sein Land kämpfen, statt sich zu drücken und hier herumzuflitzen.«
»Na«, sagte Tommy, »wenigstens ein Deutscher weniger für die Invasion.«
»Sie meinen, weil er hier schon mittendrin ist? Haha, famos, Meadowes! Aber wissen Sie, das mit der Invasion ist alles haariger Blödsinn. Wir hatten nie eine Invasion im Lande und werden nie eine haben. Wozu haben wir denn schließlich unsere gesegnete Flotte?«
Mit dieser patriotischen Betrachtung gab Haydock Gas, und der Wagen schoss den Hügel hinan zum »Schmugglernest«.
Es war zwanzig Minuten vor zwei, als Tuppence in die Pension kam. Sie bog von der Straße ab und ging durch den Garten. Das Haus betrat sie durch die Fenstertür des Salons. Ein Geruch nach Irish Stew und ein leises Tellerklappern, von Stimmengemurmel übertönt, kamen ihr entgegen; das Mittagsmahl war in vollem Gange.
Tuppence wartete nahe der Salontür, bis Martha, das Hausmädchen, durch die Halle ins Esszimmer gegangen war; dann lief sie schnell auf Strümpfen die Treppe hinauf.
Sie ging in ihr Zimmer, zog ihre weichen Filzpantoffeln an und schlüpfte über den Flur in Mrs Perennas Zimmer.
So, jetzt war sie drin! Sie blickte sich um. Eigentlich ein abscheuliches Handwerk! Widerlich, was sie jetzt tun musste. Und unverzeihlich für den Fall, dass Mrs Perenna – eben nur eine gewöhnliche Mrs Perenna war. Die Nase in andrer Leute Privatsachen stecken – brrr!
Tuppence schüttelte sich wie ein
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