Rotkäppchen und der böse Wolf
Terrier, doch wies sie sich gleich darauf selbst zurecht: Herrgott, es war schließlich Krieg! Und entschlossen ging sie auf Mrs Perennas Toilettentisch zu.
Mit ein paar flinken, zweckmäßigen Griffen prüfte sie rasch und genau den Inhalt der Schubladen. Dann wandte sie sich dem großen Schreibtisch zu.
Tommy hatte ihr ein paar Werkzeuge mitgegeben und ihr gesagt, wie sie zu gebrauchen wären. Ein paar geschickte Drehungen – das Schloss sprang auf.
Tuppence riss die Schublade heraus. Eine Geldkassette mit ein paar Zwanzigpfundscheinen und etwas Silbergeld – ein Schmuckkästchen. Da – Papiere! Also endlich etwas – vielleicht die ersehnten Beweise. Sie sah sie schnell durch, so flüchtig, wie die Eile es ihr gebot.
Eine Hypothek auf das Haus – eine Abrechnung von der Bank – Briefe. Briefe? Herrgott, die Zeit raste; wie konnte Tuppence nur in der Eile feststellen, ob da irgendetwas Doppelsinniges geschrieben war! Zwei Briefe von einem Freund aus Italien, ziemlich geschwätzig und anscheinend ganz harmlos. Vielleicht doch nicht so harmlos? Ein Brief von einem Mortimer Simon aus London – ein trockener Geschäftsbrief ohne irgendwelche Bedeutung. Wie konnte man nur solch einen Brief aufheben? Oder war Mr Mortimer doch nicht so bedeutungslos? Ganz unten lag noch ein Brief mit schon etwas verblassten Schriftzügen. »Pat«, war er unterschrieben und begann: »Eileen, mein Lieb, das ist der letzte Brief, den ich dir schreiben kann…«
Nein und nochmals nein! Tuppence brachte es nicht über sich, das zu lesen. Sie faltete den Brief wieder zusammen, schob den ganzen Stoß ordentlich aufeinander – dann stieß sie plötzlich die Schublade zu – keine Zeit mehr, sie zu verschließen…
Als sich die Tür öffnete und Mrs Perenna auf der Schwelle stand, suchte Tuppence mit nervösen Händen zwischen den Flaschen und Büchsen auf dem Waschtisch herum.
Mrs Blenkensop starrte ihrer Wirtin etwas verlegen und ziemlich einfältig ins Gesicht.
»Oh, Mrs Perenna, bitte, bitte, entschuldigen Sie. Ich bin halb verrückt vor Kopfweh, und da dachte ich, ich nehme etwas Aspirin und gehe zu Bett, und ich konnte doch mein Aspirin nicht finden, da hab ich gedacht… hab ich mir erlaubt… ich wusste, Sie haben Aspirin, Sie hatten es ja kürzlich Miss Minton angeboten…«
Mrs Perenna fegte grimmig ins Zimmer.
»Aber liebe Mrs Blenkensop«, sagte sie scharf, »warum um alles in der Welt sind Sie denn nicht zu mir gekommen?«
»Das war natürlich ganz dumm von mir. Aber Sie waren alle beim Lunch, und es ist mir so grässlich, Aufsehen zu machen.«
Mrs Perenna ging an Tuppence vorbei und nahm das Röhrchen vom Waschtisch.
»Wie viele brauchen Sie?«, fragte sie unfreundlich.
Mrs Blenkensop bat um drei Tabletten und ging mit Mrs Perenna zu ihrem eigenen Zimmer. Das Anerbieten einer Wärmeflasche lehnte sie hastig und verlegen ab.
An der Tür schleuderte ihr Mrs Perenna noch einen Trumpf ins Gesicht: »Aber Sie haben ja Aspirin, Mrs Blenkensop! Ich hab’s doch selbst gesehen.«
»Natürlich habe ich welches«, rief Tuppence und schlug sich vor den Kopf, »ich weiß doch, aber ich finde und finde es nicht!«
Mrs Perenna fletschte bedrohlich die großen weißen Zähne. »Nun, ruhen Sie sich bis zum Tee gut aus.«
Sie ging aus dem Zimmer und schloss die Tür. Tuppence atmete erleichtert auf; dann streckte sie sich auf dem Bett aus, für den Fall, dass die Wirtin etwa noch einmal zu ihr käme.
Hatte die andere Verdacht geschöpft? Diese Zähne, diese großen, weißen Zähne – »Damit ich dich besser fressen kann!« Oh, armes Rotkäppchen. Tuppence hatte sich von Anfang an vor diesen Zähnen gefürchtet. Auch Mrs Perennas Hände sahen bedrohlich aus.
Wenigstens schien sie Tuppence’ Erklärung nicht ganz unwahrscheinlich gefunden zu haben. Was aber, wenn sie später die unverschlossene Schublade entdeckte? Vielleicht dachte sie dann, sie hätte sie selber versehentlich offen gelassen. So etwas kann geschehen. Ob die Papiere wohl auch ordentlich genug an ihrem Platz lagen? Ob keine Spur sie verriet?
Natürlich würde Mrs Perenna, falls etwas nicht stimmte, eher ein Dienstmädchen verdächtigen als Mrs Blenkensop. Allenfalls würde sie von ihr denken, sie sei eine unverschämt neugierige Person und stöbere gern in andrer Leute Sachen. Solche Frauen gab es ja.
Aber wenn Mrs Perenna nun wirklich die berüchtigte deutsche Agentin M. war? Dann müsste sie vor Gegenspionage auf der Hut sein.
Hatte etwas in ihrem
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