Rotkäppchen und der böse Wolf
Verhalten darauf hingedeutet? Nein, sie war ein bisschen ärgerlich, aber ganz natürlich gewesen – nur zuletzt die bissige Bemerkung über das Aspirin…
Plötzlich fuhr Tuppence steil in die Höhe: Es fiel ihr ein, dass sie ihr eigenes Aspirin, das Jodfläschchen und ihre Pfefferminztropfen beim Auspacken zuhinterst in die Schreibtischschublade gestopft hatte. Also – nicht nur sie spionierte in andrer Leute Zimmer. Mrs Perenna war ihr zuvorgekommen.
7
A m folgenden Tag fuhr Mrs Sprot nach London.
Mit ein paar schüchternen Andeutungen hatte sie es sofort erreicht, dass verschiedene Gäste des Hauses sich erboten, Betty zu hüten.
Für den Vormittag hatte Tuppence die Kindermädchenpflichten übernommen. Mrs Sprot ermahnte Betty zum letzten Mal, brav und lieb zu sein, dann ging sie. Und Betty belegte Tuppence mit Beschlag.
»Pielen«, sagte sie. »Verstecken pielen.«
Sie lernte täglich besser sprechen und hatte in letzter Zeit die Gewohnheit angenommen, ihr Köpfchen mit völlig unwiderstehlichem Lächeln auf die Schulter zu legen und »bittebitte« zu murmeln.
Eigentlich hatte Tuppence mit dem Kind spazieren gehen wollen, aber es regnete. So begaben sie sich zusammen in Bettys Schlafzimmer, und die Kleine lief zum Schreibtisch, in dessen unterer Schublade ihre Spielsachen aufbewahrt lagen.
»Wollen wir Bonzo verstecken?«, schlug Tuppence vor. Aber Betty hatte ihre Wünsche schon geändert und bettelte: »Les. Les ssöne Gessichte.«
Tuppence zog ein arg mitgenommenes Bilderbuch voller Fettflecken aus der Reihe auf dem Bord, wurde aber von Betty quiekend zurechtgewiesen.
»Nein, nein! Bäh-bäh Buch, bäh-bäh.«
Tuppence sah sie erstaunt an und betrachtete dann das Buch; es war eine illustrierte Ausgabe von Rotkäppchen.
»War Rotkäppchen böse?«, fragte sie. »War es ungehorsam? Armes Rotkäppchen.«
Aber Betty beteuerte weiter mit heftigem Abscheu: »Bäh-bäh!« und dann mit großer Anstrengung: »Mutzig!«
Sie nahm Tuppence das Buch aus der Hand, stellte es an seinen Platz zurück und zog am andern Ende der Reihe das gleiche Buch heraus.
»Feines Rottäppsen, lieb, sauber!«, sagte sie strahlend.
Nun begriff Tuppence, dass die zerrissenen, fleckigen Bilderbücher durch neue und saubere ersetzt worden waren. Das belustigte sie. Also war auch Mrs Sprot eine von diesen »hygienischen Müttern«, mit der dauernden Furcht vor Staub und Schmutz und Bazillen, eine von den Müttern, die vor Angst umkamen, wenn das Kind ein Spielzeug in den Mund steckte.
Tuppence selbst, in der freien, heiteren Atmosphäre eines Landpfarrhauses aufgewachsen, hielt herzlich wenig von dieser übertriebenen Hygiene. Ihren eigenen zwei Kindern hatte sie immer ein »unerlässliches Quantum Schmutz« zugestanden. Aber sie nahm jetzt gehorsam das saubere Buch und las daraus vor. Betty murmelte zärtlich: »Rottäppsen daa – Omama heija-haija – huuh, böse Wolff!«, und tippte mit ihrem klebrigen Fingerchen auf die Bilder, sodass Tuppence dachte, nun würde wohl bald ein drittes Exemplar fällig sein. Sie lasen dann Hopp hopp hopp, Pferdchen, lauf Galopp und die Geschichte von den Hei n zelmännchen, und dann versteckte Betty die Bücher, und Tuppence brauchte zu Bettys Wonne eine unendliche Zeit, um sie zu finden, und so verging der Vormittag wie im Fluge. Nach dem Mittagessen wurde Betty zum Schlafen in ihr Bettchen gelegt, und Mrs O’Rourke lud überraschenderweise Tuppence in ihr Zimmer ein.
Mrs O’Rourkes Zimmer war bemerkenswert unordentlich. Es roch dort nach Pfefferminztee, altbackenem Kuchen und Mottenkugeln. Auf allen Tischen standen Fotos von Mrs O’Rourkes Kindern und Enkeln, Nichten und Neffen, Großnichten und Großneffen – eine wahre Familien-Orgie.
»Sie haben eine reizende Art, mit Kindern umzugehen«, bemerkte Mrs O’Rourke freundlich.
»So etwas verlernt man nicht«, sagte Tuppence, »mit meinen beiden…«
»Beiden?«, fiel Mrs O’Rourke ihr ins Wort. »Wenn ich nicht irre, sprachen Sie doch immer von dreien?«
»Ja, gewiss, drei. Aber die zwei jüngeren sind fast gleichaltrig, und ich dachte gerade daran, wie ich immer mit ihnen spielte.«
»Ach so. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mrs Blenkensop. Machen Sie es sich bequem.«
Tuppence setzte sich gehorsam. Wenn sie sich nur in Mrs O’Rourkes Gesellschaft nicht so unbehaglich gefühlt hätte! Aber ihr war zu Mute wie Hansel und Gretel vor dem Hexenhaus.
»Nun sagen Sie einmal«, begann Mrs O’Rourke, »was halten Sie
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