Rotkäppchen und der böse Wolf
bevorstand.
Da es nicht mehr regnete, zog Miss Minton Betty für einen Spaziergang an. Sie wollten in den Ort gehen und eine Zelluloid-Ente für die Badewanne kaufen.
Betty war furchtbar aufgeregt und trippelte so quecksilbrig hin und her, dass man ihre Armchen nur mit Mühe in den wollenen Pullover zwängen konnte.
Als die beiden sich schließlich auf den Weg machten, hörte man Klein-Bettys entzückendes Geplapper noch lange von der Straße her.
Zwei Zündhölzchen, kreuzweise auf den Marmortisch in der Halle geworfen, übermittelten Tuppence die Nachricht, dass Mr Meadowes diesen Nachmittag auf Mrs Perennas Spuren verbrachte. Sie selbst begab sich in den Salon und ließ Mr und Mrs Cayleys Gesellschaft über sich ergehen.
Mr Cayley war in sehr gereizter Laune. Er sei nach Leahampton gekommen, so erklärte er, um völlige Ruhe und Erholung zu finden, aber mit diesem Kind im Hause – konnte da von Ruhe die Rede sein? Den ganzen Tag lief es krähend umher, sprang die Treppen hinunter, rannte über den Flur…
Mrs Cayley murmelte besänftigend, Betty sei doch wirklich ein reizendes kleines Ding; aber die Bemerkung wurde sehr unwirsch aufgenommen.
»Natürlich, zweifellos«, sagte Mr Cayley, seinen langen Hals nervös hin und her drehend, »aber ihre Mutter sollte sie ruhiger halten. Man muss doch auf andere Menschen Rücksicht nehmen. Auf Kranke, deren Nerven Ruhe verlangen.«
»Es ist nicht leicht«, sagte Tuppence, »ein Kind in diesem Alter ruhig zu halten. Es wäre auch gar nicht natürlich – Kinder sind nur still, wenn ihnen etwas fehlt.«
Mr Cayley schluckte ärgerlich.
»Unsinn, Unsinn. Diese verrückten modernen Ideen. Die Kinder dürfen heutzutage einfach tun, was ihnen Spaß macht – Unsinn das. Ein Kind sollte man dazu anhalten, dass es ruhig dasitzt. Es kann mit seinen Puppen spielen, ein Buch lesen oder sonst etwas tun.«
»Du lieber Gott«, sagte Tuppence lächelnd, »sie ist ja noch nicht einmal drei Jahre alt, da können Sie doch nicht verlangen, dass sie liest.«
»Einerlei, es muss etwas geschehen. Ich werde mit Mrs Perenna reden. Heute Früh hat das Kind schon vor sieben Uhr im Bett gesungen – jawohl, gesungen! Ich hatte eine schlechte Nacht hinter mir und war gerade ein bisschen eingedämmert; natürlich bin ich dann sofort wieder aufgewacht.«
»Es ist sehr wichtig, dass mein Mann soviel wie möglich schläft«, bekräftigte Mrs Cayley ängstlich. »Der Arzt hat es gesagt.«
»Warum gehen Sie nicht in ein Sanatorium?«, fragte Tuppence.
»Meine liebe Dame, Sanatorien sind unerschwinglich teuer, und außerdem wäre die Atmosphäre dort ganz ungeeignet für mich. Die Krankenluft würde sich ungünstig auf mein Unterbewusstsein auswirken.«
»Fröhliche Gesellschaft, hat der Arzt gesagt«, kam ihm Mrs Cayley hastig zu Hilfe. »Unterhaltung und Anregung.« Soweit Tuppence beurteilen konnte, bestand Mr Cayleys Unterhaltung in einer endlosen Wiederholung seiner Krankengeschichte, und Anregung empfing er nur, wenn sich ein andrer für seine Klagen zu interessieren schien.
Geschickt wechselte sie das Thema.
»Ich würde so gern etwas über Ihre Ansichten vom Leben in Deutschland hören. Haben Sie sich in den letzten Jahren nicht längere Zeit dort aufgehalten? Erzählen Sie doch, es ist so interessant, die Meinungen eines welterfahrenen Mannes kennen zu lernen.«
Schmeichelei war nach Tuppence’ Ansicht bei jedem Mann der wirksamste Köder. Und richtig, Mr Cayley biss sofort an. »Ganz richtig, meine liebe Dame, ich hege wirklich keine Vorurteile. Mein Blick ist klar und unbestechlich. Also meiner Meinung nach…«
Was nun folgte, war ein nicht enden wollender Monolog. Tuppence warf nur zuweilen ein »Oh, wie interessant« oder »Sie verstehen aber zu beobachten« ein, hörte jedoch mit einer Gespanntheit zu, die nicht nur gespielt war. Denn Mr Cayley, von der Aufmerksamkeit, die er fand, hingerissen, entpuppte sich als aufrichtiger Bewunderer des Nazisystems. Er deutete an, obschon er es nicht offen aussprach, wie viel besser es gewesen wäre, wenn England und Deutschland sich gegen das übrige Europa verbündet hätten. Miss Minton und Betty, die von ihrem Ausflug zurückkehrten, unterbrachen endlich den Monolog, der fast zwei Stunden gedauert hatte. Aufblickend bemerkte Tuppence einen sonderbaren Ausdruck in Mrs Cayleys Gesicht. Was war es? Begreifliche weibliche Eifersucht, weil ihr Mann sich so lange einer anderen Frau gewidmet hatte? Unruhe, weil Mr Cayley seine
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