Rotkäppchen und der böse Wolf
luxuriöse Badezimmer betraten. Tommy wusch die klebrige, süße Flüssigkeit sorgfältig ab, während Haydock vom Schlafzimmer nebenan auf ihn einsprach.
»Ich habe mich wohl ein bisschen gehen lassen. Armer alter Appledore. Aber er kennt mich schon, er weiß, dass es nicht so bös gemeint ist.«
Tommy wandte sich vom Waschbecken weg, während er sich die Hände abtrocknete. Er hatte nicht bemerkt, dass ein Stück Seife zu Boden gefallen war. Unversehens trat er darauf, und im nächsten Augenblick rutschte er auf dem spiegelglatten Linoleum durch den Raum wie ein wildgewordener Ballett-Tänzer. Mit ausgestreckten Armen schoss er vorwärts, eine Hand stieß gegen den Rand der Badewanne, die andere gegen ein kleines Schränkchen. Sein Fuß prallte heftig gegen die Schutzleiste der Badezimmerwand.
Was nun geschah, war wie ein Zauberkunststück. Die Wanne glitt von der Wand weg, sie drehte sich in einer verborgenen Angel. Tommy blickte in eine dunkle Nische. Was in der Nische stand, wunderte ihn nicht mehr: ein Radio-Sendeapparat. Haydock hatte zu reden aufgehört. Jetzt trat er unter die Verbindungstür. Und wie man ein Licht anknipst, so rollte in Tommys Hirn plötzlich der ganze Film ab.
War er denn bisher blind gewesen? Das joviale Gesicht, das Gentleman-Gehabe des »waschechten Engländers« – was war es anderes als eine Maske? Wie war es nur möglich, dass er es nicht schon längst erkannt hatte: dieses typische Benehmen des hochnäsig polternden preußischen Offiziers. Der Zwischenfall mit Appledore kam Tommy dabei zu Hilfe; er erinnerte ihn an eine Szene, die er vor langer Zeit mit angesehen hatte: Ein preußischer Junker brüllte damals seinen Untergebenen an, mit der ganzen unverschämten, verletzenden Überheblichkeit des allmächtigen Vorgesetzten. Genauso hatte Haydock heute Abend seinen Diener abgekanzelt.
Und alles passte zusammen – fast unglaubwürdig gut, der doppelte Bluff. Zuerst war Hahn als feindlicher Agent vorgeschickt worden, um das Terrain vorzubereiten; er hatte fremde Arbeiter beschäftigt, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, bis der nächste Zweck erreicht war: seine Entlarvung durch den tapferen, wachsamen britischen Marineoffizier Haydock. Und wie natürlich, dass der Engländer das Grundstück kaufte und jedermann bis zum Überdruss seine Geschichte wieder und wieder erzählte. Hier saß also N. ganz ungestört an dem von langer Hand vorbestimmten Ort am Meer, mit einem Geheimsender und seinen Verbindungsleuten im Sans Souci, bereit, alle deutschen Pläne auszuführen!
Gegen seinen Willen musste Tommy die Gegner bewundern. Großartig war das Ganze ausgedacht! Haydock, gerade Haydock hätte er niemals verdächtigt. Der schien so unzweifelhaft echt. Wenn ihm nicht der bare Zufall zu Hilfe gekommen wäre…
Die ganze Gedankenreihe fuhr Tommy in wenigen Sekunden durch den Kopf. Aber zugleich machte er sich klar, in welch tödlicher Gefahr er schwebte. Wenn er jetzt nur die Rolle des gutgläubigen, begriffsstutzigen Engländers gut genug spielte!
Er wandte sich lachend Haydock zu – hoffentlich klang das Lachen echt…
»Bei Ihnen hören ja die Überraschungen überhaupt nicht auf. Ist das auch so ein kleiner Wunderapparat von Hahn? Den haben Sie mir neulich nicht gezeigt.«
Haydock stand unbeweglich. Sein ganzer starker Körper war gestrafft, während er den Ausgang versperrte. Doch dann entspannte er sich und lachte.
»Entschuldigen Sie, Meadowes, aber es war zu komisch. Sie kamen da lang geschlittert wie eine Ballettratte. So etwas sieht man nicht alle Tage. So, nun trocknen Sie sich die Hände ab und kommen Sie.«
Tommy folgte ihm hellwach, jeden Muskel gespannt. Wäre er nur erst aus dem Haus mit dem, was er nun wusste. Ob er Haydock wirklich zu überlisten vermochte? Er musste diese unschätzbare Entdeckung seinem Auftraggeber übermitteln. Er war jetzt nur Gefäß dieser wichtigen Botschaft, und das Gefäß musste heil bleiben.
Haydock legte seinen Arm um Tommys Schulter, ganz absichtslos (oder doch nicht?), und führte ihn ins Wohnzimmer. Dann schloss er sorgfältig die Tür hinter sich.
»Alter Freund, ich muss Ihnen etwas sagen.«
Er sprach so freundlich, so natürlich – allenfalls ein bisschen verlegen. Er wies Tommy einen Stuhl an.
»Ein bisschen kitzlige Geschichte«, begann er. »Ja wirklich, ein bisschen sehr kitzlig! Aber warum soll ich Sie nicht ins Vertrauen ziehen? Sie müssen mir nur versprechen, Meadowes, den Mund zu halten, verstanden?
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