Rotkäppchens Rache
das Mondlicht ihnen Form und Festigkeit verliehe.
Sie trugen die Kleidungsstücke, in die sie im Leben gekleidet gewesen waren: seidene Schärpen und sorgfältig verarbeitetes Leder, goldene Ringe und juwelenbesetzte Kronen. Die meisten führten nur Schmuckwaffen mit sich; Schwerter, die mit so viel Edelsteinen verziert waren, dass eine halbe Stadt ein Jahr lang davon hätte leben können.
»Das sind Prinzen«, flüsterte Talia. »Es sind die Männer, die bei dem Versuch, mich zu erreichen, den Tod gefunden haben. Die Hecke hat sie alle umgebracht.«
»Umgebracht und behalten, so wie’s aussieht.« Sie behalten, bis Zestan kam, um sie zu ihrem Schutz zu benutzen. Es mussten mehr als hundert Geister sein, die die freie Fläche vor dem Schloss füllten. Roudette entdeckte einen mit grauem Bart, der ihm bis zur Mitte der Brust hing. Neben ihm stand ein Junge, der nicht mehr als fünf Jahre alt gewesen sein konnte. Seine Eltern hatten wahrscheinlich gehofft, seine geringere Größe würde es ihm ermöglichen, durch die Hecke zu schlüpfen, wo größere Männer versagt hatten.
»Mir war nie klar, dass es so viele waren!«, sagte Talia. Plötzlich stockte ihr der Atem und sie machte eine instinktive Bewegung auf einen Mann mittleren Alters in einer langen blauen Jacke zu. Blutleere Löcher in seiner Brust zeigten, wie er gestorben war. »Prinz Amabar! Er war mein Vetter. Amabar, ich bin’s, Talia!«
Amabar rührte sich nicht. Keiner von ihnen schien den Preis zu erkennen, für dessen Gewinn sie in den Tod gegangen waren.
Talia sank auf die Knie. Sie schien zu beten, aber Roudette konnte hören, dass sie mit Schnee und Danielle flüsterte. »Vergesst nicht, die Kha’iida davor zu warnen, wem sie hier entgegentreten!«
»Wo ist Zestan?«, fragte Roudette gebieterisch.
»Sie wartet da drin«, antwortete Nagesh, indem sie mit einer Hand auf das Schloss zeigte. Sie zog eine Halskette aus ihrem Hemd, die ein Anhänger aus grünem Kristall von der Größe ihres Daumens schmückte. »Sie sieht und hört alles, was hier geschieht.«
Roudette verschränkte die Arme unter ihrem Umhang. »Erfülle deinen Teil der Abmachung! Rufe den Rest der Wilden Jagd herbei!«
»Die Jagd gehorcht Zestan«, entgegnete Nagesh. »Du hast ihr Wort, dass sie dein Land nicht mehr belästigen werden.«
»Und wenn Zestan umkommt?« Roudette schüttelte den Kopf. Sie kam sich wieder wie ein Kind vor, das darum kämpfen musste, seine Stimme daran zu hindern, dass sie zitterte. »Sie sollen alle zugegen sein! Die Jagd soll sich selbst verpflichten zu gehorchen!«
Ohne ein Signal oder ein Geräusch erschien die Wilde Jagd. Jeder Jäger schien ein kleines Stück des Monds in sich zu tragen, das zu dem schon vorhandenen Licht beitrug, bis es taghell war. Ihre Reittiere drängten sich zwischen der Elfenmauer und einer Vertiefung im Boden zusammen, die vielleicht einmal ein dekorativer Bach um das Schloss herum gewesen war.
Roudettes Finger schoben sich in eine kleine Tasche, die in den Saum ihres Umhangs genäht war. Vorsichtig nahm sie ein kleines, mit Widerhaken versehenes Gewicht heraus und verbarg es in ihrer von Schweiß feuchten Hand.
Nagesh breitete die Arme aus. »Zestan-e-Jheg schwört dir, dass die Wilde Jagd Morova nie wieder belästigen wird. Im Austausch dafür wirst du Talia Malak-el-Dahshat in meine Obhut übergeben.«
Mit der leeren Hand zog Roudette Talia auf die Füße. »Dein Wort als Elfe, dass Zestan in diesen Mauern wartet und dass sie diese Abmachung hört und bestätigt?«
»Du hast mein Wort«, bekräftigte Nagesh.
Obwohl über einhundert Jahre alt, war das Bleigewicht noch so spitz wie an dem Tag, an dem es gegossen worden war, und praktisch unberührt vom Alter. Tropfenförmig, mit winzigen Spornen, die sich um den Mittelpunkt herum nach oben krümmten, trug es noch die Blutflecken vom letzten Mal, als es Talias Haut durchdrungen hatte. Roudette spürte, wie die Magie des Elfengifts, das am Metall haftete, ihren Handteller erwärmte. Wenn sie es zu lange hielt, würde ihre Haut Blasen werfen.
Den Geschichten zufolge hatte Talias Fluch jeden im Palast in Mitleidenschaft gezogen. Jedes Tier war zu Boden gesunken, selbst die Fliegen waren schlafend aus der Luft gefallen. Dieser Fluch hatte einhundert Jahre angedauert und war weder durch Schwert noch Zauberei zu brechen gewesen.
Roudette bezweifelte, dass ihr Umhang stark genug war, um sie vor solcher Macht zu schützen. Hundert Jahre lang hatten Aratheaner versucht,
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