Rotkäppchens Rache

bestimmt.
    »Du weißt, was ich meine.« Er drückte ihre Hand. »Du hättest es mir sagen können.«
    »Es stand mir nicht zu, dieses Geheimnis zu teilen.«
    »Ich weiß.« Er zuckte zusammen, als eins der Kinder einen besonders durchdringenden Schrei ausstieß. Er wollte noch mehr sagen, doch plötzlich verhärtete sich seine Miene.
    Danielle folgte seinem Blick und sah Wachen, die zum Haupttor rannten. »Nicolette, bring die Kinder rein!«
    »Du auch!« Armand nahm Danielles Arm.
    Eine der Wachen machte kehrt und rief nach Tymalous. Mit pochendem Herzen entwand Danielle sich Armands Griff. »Wenn es ein Angriff wäre, würden sie nach Verstärkung rufen, nicht nach dem Heiler des Königs.«
    Inzwischen hatten die meisten Palastangestellten mit der Arbeit aufgehört, um nachzusehen, was vor sich ging. Aus der Kapelle kam mit wehender, verblichener schwarzer Robe Vater Isaac gerannt, im Schlepptau einen sich langsamer bewegenden Tymalous.
    Schnee erschien als Erste im Tor, in den Armen den erschöpften und blutigen Trittibar. Ein Arm war übel zugerichtet, Haut und Ärmel zerfetzt. Den beiden folgte Talia, die Charlotte vor sich her stieß.
    »Roudette ist entkommen.« Danielle konnte es in Talias Miene lesen. Nichts versetzte Talia in größere Wut als eigenes Versagen, und was auch passiert war, sie gab sich die Schuld.
    Danielle legte eine Hand auf Armands Schulter. Sein ganzer Körper war angespannt, als er zusah, wie Talia Charlotte den Wachen übergab. Als er Charlotte zum letzten Mal gesehen hatte, hatten sie und Stacia ihn mithilfe von Zauberei versklavt.
    Schnee und Trittibar setzten sich gleich hinter dem Tor auf den Rasen. Sie kamen offenbar geradewegs aus dem Kampf und hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, Trittibars Wunden zu verbinden. Tymalous und Isaac scheuchten Schnee weg und nahmen die Verletzung am Arm des Botschafters in Augenschein.
    Schnee wankte und wäre vielleicht gefallen, wenn Talia sie nicht aufgefangen hätte. Danielle lief bereits zu ihnen, dicht gefolgt von Armand.
    »Was ist passiert?«, fragte Danielle. »Geht es euch beiden gut?«
    »Mit mir ist gleich wieder alles in Ordnung«, versicherte Schnee. »Es ist Trittibars Schuld, weil er uns so plötzlich verschwinden ließ. Er brach meinen Windzauber, und die Reaktion war heftiger, als ich erwartet hatte.« Sie lächelte Talia matt an. »Echt peinlich - mitten im Kampf einen Wind abgehen zu lassen!«
    »Das ist furchtbar.« Talia boxte ihr leicht an die Schulter. »Roudette -«
    »Ich weiß«, sagte Danielle. »Sie ist entkommen. Was bedeutet, dass sie jetzt wieder hinter mir her ist.«
    »Nicht hinter dir.« Talia warf einen Blick über die Schulter, als rechne sie damit, Roudette hinter ihr durchs Tor stürmen zu sehen. »Hinter mir.«
*
    Der Thronraum war der Ort, den Danielle im Palast Whiteshore am wenigsten mochte. Hier, von so viel Reichtum und Opulenz umgeben, zu stehen, ließ sie sich wie eine Hochstaplerin vorkommen.
    Marmorsäulen rahmten ein rundes Podium ein, auf dem zwei Throne standen, beide aus dunkler Eiche geschnitzt und mit Gold und Elfenbein eingelegt. Die Rückenlehne des Throns des Königs war einem Greifen nachempfunden; die des Sitzes der Königin einem Schwan, dessen Flügel nach vorn gestreckt waren, als wollten sie Beatrice umschließen.
    Von Danielles Platz neben der Königin konnte sie jede Linie im Gefieder des Schwans erkennen, dessen einzelne Federn übermenschlich fein detailliert herausgearbeitet waren. Die Königin saß steif da, sodass ihr Rücken die Lehne des Throns nicht ganz berührte. Neben ihr flüsterte König Theodore gerade Kanzler Crombie etwas zu, einem sauertöpfischen alten Mann mit runzligem Gesicht und ständig tintenfleckigen Fingern. Crombie saß rechts vom Podium an einem Holzschreibtisch, auf dem Pergament und Tinte seiner harrten.
    Am anderen Ende des Thronraums standen zu beiden Seiten der Doppeltür gepanzerte Wachen, deren Rüstungen so poliert waren, dass sie fast so hell wie Schnees Spiegel glänzten. Links vom Podium wartete Vater Isaac, das silberne Kruzifix mit beiden Händen umklammert, den Kopf in magischem Gebet gesenkt.
    Ansonsten war der Raum verlassen. So bedrückend der Thronraum normalerweise schon auf Danielle wirkte, die Leere ließ ihn noch schlimmer erscheinen. Bei dieser Verhandlung würde es keine Zuhörer geben. Nur Kanzler Crombie war anwesend, um Charlottes Verurteilung zu dokumentieren.
    Danielle zog ihren Gürtel gerade und rückte ihr Schwert