Rotkehlchen
falscher Ton. Ein falscher, kreischender Ton. Ein Ton, kreischend und …
Ein Ton ist nicht falsch, dachte er. Ein Ton kann nicht falsch sein, solange er nicht mit anderen Tönen zusammengesetzt wird. Sogar Ellen, die musikalischste Person, die er gekannt hatte, hatte mehrere Stichworte, mehrere Töne gebraucht, um die Musik zu hören. Nicht einmal sie konnte aus einem einzigen Stichwort mit hundertprozentiger Sicherheit erkennen, dass etwas falsch war, einen Fehler, eine Lüge.
Und dennoch sang dieser Ton in seinem Ohr, hoch und kreischend falsch: dass er in Klippan den möglichen Absender eines Faxes ausspionieren sollte, das bisher nur zu ein paar Schlagzeilen in den Zeitungen geführt hatte. Noch an diesem Morgen hatte er die Zeitungen überprüft. Ganz offensichtlich hatten sie die Drohbriefe bereits vergessen, die noch vier Tage zuvor die Überschriften dominiert hatten. Stattdessen brachte das Dagbladet etwas über Lasse Kjus, der Norwegen und insbesondere Staatssekretär Bernt Brandhaug hasste, welcher, wenn sie ihn richtig zitierten, gesagt hatte, Landesverräter sollten zum Tode verurteilt werden.
Noch ein anderer Ton war falsch. Aber vielleicht nur deshalb, weil er ihn falsch haben wollte. Rakels Abschied bei diesem Essen, der Ausdruck in ihren Augen, diese halbe Liebeserklärung, ehe sie kurzen Prozess gemacht und ihn mit dem Gefühl zurückgelassen hatte, im freien Fall zu sein, sowie mit der Rechnung über achthundert Kronen, die sie so großzügig hatte übernehmen wollen. Da stimmte doch etwas nicht. Rakel war in Harrys Wohnung gewesen, sie hatte ihn trinken sehen, zugehört, als er mit tränenerstickter Stimme von einer toten Kollegin gesprochen hatte, die er kaum zwei Jahre kannte und die doch der einzige Mensch gewesen zu sein schien, zu dem er jemals eine engere Beziehung gehabt hatte. Es sollte den Menschen erspart bleiben, ihre Mitmenschen derart nackt zu sehen. Warum hatte sie nicht bereits da einen Schlussstrich gezogen, sich selbst gesagt, dass dieser Mann mehr Schwierigkeiten brachte als gut war?
Wie gewöhnlich, wenn sein Privatleben zu aufdringlich wurde, hatte er sich in die Arbeit geflüchtet. Das sei charakteristisch für einen gewissen Typ von Männern, hatte er gelesen. Wohl deshalbhatte er das Wochenende damit verbracht, Verschwörungstheorien zu entwerfen und Gedankengebäude zu errichten, mit deren Hilfe es möglich war, alle Puzzleteile – die Märklin-Waffe, der Mord an Ellen, der Mord an Hallgrim Dale – in einen Topf zu werfen, so dass er sie zu einer übel riechenden Suppe zusammenrühren konnte. Er warf einen Blick auf die aufgeschlagene Zeitung, die auf dem Klapptischchen vor ihm lag – auf ein Bild vom Staatssekretär des Außenministeriums. Irgendwie kam ihm dieser Mensch bekannt vor.
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Aus Erfahrung wusste er, dass das Gehirn seine eigenen Verknüpfungen herzustellen begann, wenn man bei einer Ermittlung nicht weiterkam. Und die Nachforschungen über die Waffe waren abgeschlossen, das hatte ihm Meirik klar zu verstehen gegeben. Er hatte das eine Un -Sache genannt. Meirik wollte lieber, dass Harry Berichte über Neonazis schrieb und wurzellose schwedische Jugendliche ausspionierte. Verflucht noch mal!
»… Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.«
Was, wenn er einfach ausstieg? Was wäre das Schlimmstmögliche? Solange Außenministerium und PÜD fürchteten, dass etwas über die Schießerei an der Mautstation im vergangenen Jahr herauskommen könnte, konnte ihn Meirik nicht entlassen. Und was Rakel anging … Was Rakel anging, hatte er keine Ahnung.
Der Zug stoppte mit einem letzten Stöhnen und es wurde bedrückend leise im Waggon. Draußen im Gang klapperten Abteiltüren. Harry blieb sitzen. Er hörte den Gesang aus dem Walkman deutlicher. Den hatte er schon oft gehört, er kam nur nicht darauf, wo.
Nordberg und Continental Hotel, 10. Mai 2000
72 Der alte Mann war vollkommen unvorbereitet und es verschlug ihm den Atem, als die Schmerzen plötzlich auftraten. Er krümmte sich am Boden liegend zusammen und schob sich die Faust in den Mund, um nicht zu schreien. So lag er da und versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben, während Wogen von Licht und Dunkel ihn durchspülten. Er öffnete und schloss die Augen. Der Himmel wölbte sich über ihm und die Zeit schien schneller zuverstreichen, Wolken schossen über den Himmel, Sterne schimmerten durch das Blau hindurch und es wurde Nacht und Tag, Nacht und Tag und wieder
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