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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zusammen und zielte auf den Papierkorb. »Fünf Lohnstufen, sagtest du?«
    »Und ein eigenes Büro.«
    »Gut abgeschirmt von den anderen, vermute ich.« Er warf mit langsamer Armbewegung. »Werden die Überstunden bezahlt?«
    »In dieser Lohnklasse nicht, Harry.«
    »Dann muss ich zusehen, dass ich um vier Uhr nach Hause komme.« Der Pappbecher fiel einen halben Meter vor dem Papierkorb zu Boden.
    »Das geht sicher in Ordnung«, sagte Møller mit einem winzigen Lächeln.
     
    Schlosspark, 10. November 1999
     
    18 Es war ein klarer, kalter Abend. Das Erste, was dem alten Mann auffiel, als er aus der U-Bahn-Haltestelle nach oben kam, war, wie viele Menschen noch auf den Straßen waren. Er hatte gedacht, das Zentrum wäre so spät am Abend verwaist, doch auf der Karl Johan Gate schossen die Taxis im Licht der Neonlampen hin und her und die Menschen schoben sich über die Gehsteige. An einer Ampel blieb er stehen und wartete gemeinsam mit einer Gruppe dunkelhäutiger Jugendlicher, die in einer merkwürdigen, klackernden Sprache miteinander redeten. Er nahm an, dass sie Pakistaner waren. Vielleicht auch Araber. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als die Ampel auf Grün sprang. Zielstrebig ging er über die Straße und hinauf in Richtung der hell angestrahlten Schlossfassade. Sogar hier gab es Menschen, die meisten von ihnen waren jung, mochten die Götter wissen, wo sie alle herkamen. Er blieb vor der Statue von Karl Johan stehen und atmete tief durch. Der alte König saß auf seinem Pferd und blickte in Richtung Storting und der Macht, die er von dort in das Schloss hinter sich zu verlagern versucht hatte.
    Es hatte schon seit einer Woche nicht mehr geregnet, und das trockene Laub raschelte, als der alte Mann den Weg nach rechts verließ und zwischen die Bäume trat. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schaute nach oben zwischen den nackten Zweigen hindurch, die sich vor dem Sternenhimmel über ihm abzeichneten. Ein Vers kam ihm in den Sinn:
     
    Ulm’ und Pappel, Birk’ und Eich’,
    schwarze Zweige, tot und bleich
     
    Er dachte, es wäre besser gewesen, wenn an diesem Abend der Mond nicht geschienen hätte. Andererseits war es jetzt leicht zu finden, was er suchte: die dicke Eiche, an die er seinen Kopf gelehnt hatte, nachdem er erfahren hatte, dass sein Leben sich dem Ende näherte. Er folgte dem Stamm mit seinen Augen nach oben bis in die Baumkrone. Wie alt mochte der Baum sein? Zweihundert Jahre? Dreihundert? Der Baum war vielleicht bereits groß und mächtig gewesen, als sich Karl Johan zum norwegischen König hatte ausrufen lassen. Egal: AllesLeben hatte einmal ein Ende. Das seine, das des Baumes, ja selbst das des Königs. Er stellte sich hinter den Baum, so dass er vom Weg aus nicht gesehen werden konnte, und nahm seinen Rucksack ab. Dann kauerte er sich hin, öffnete seinen Rucksack und leerte den Inhalt aus: drei Flaschen einer Glyfosatlösung, die der Verkäufer von Jernia im Kirkevei Round-up genannt hatte, und eine Pferdespritze mit kräftiger Stahlnadel, die er in der Sphinx-Apotheke bekommen hatte. Er hatte behauptet, er benötige die Spritze, um Essen zuzubereiten, um Fett ins Fleisch zu spritzen, doch das war ganz unnötig gewesen, denn der Verkäufer hatte ihn nur gleichgültig angesehen und ihn sicher bereits vergessen, noch ehe er zur Tür hinausgegangen war.
    Der alte Mann sah sich rasch um, ehe er die lange Stahlnadel durch den Korken der ersten Flasche drückte und dann den Kolben der Spritze hochzog, so dass diese sich mit der klaren Flüssigkeit füllte. Er tastete sich zu einer Stelle vor, an der ein kleiner Riss in der Rinde war, und schob die Spritze hinein. Es ging nicht so einfach, wie er geglaubt hatte; er musste sehr fest drücken, um die Nadelspitze in die harte Rinde hineinzubekommen. Es wäre nutzlos, die Substanz von außen in die Rinde zu spritzen. Er musste bis ins Kambium, ins Innere der Rinde, wo das Leben pulsierte. Er drückte mit noch mehr Kraft gegen die Spritze. Die Nadel zitterte. Verdammt! Sie durfte nicht abbrechen, er hatte nur diese eine. Die Nadel glitt ein wenig weiter, doch nach ein paar Zentimetern steckte sie vollkommen fest. Trotz der kühlen Temperatur rann ihm der Schweiß von der Stirn. Er packte erneut zu und wollte noch mehr Kraft aufwenden, als plötzlich das Laub neben dem Weg raschelte. Er ließ die Spritze los. Das Geräusch kam näher. Er schloss die Augen und hielt die Luft an. Die Schritte gingen unmittelbar an ihm vorbei. Als er die Augen

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