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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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wurden die deutschen Stellungen fortlaufend von den Katjuschas bombardiert. Der ehemals so dichte Kiefernwald sei ein einziges hölzernes Trümmerfeld. Auch sie hatten die Musik der Stalinorgeln während der letzten Nächte in der Ferne gehört, doch dass es so schlecht stand, hatte er nicht geahnt.
    Edvard hatte seinen Gang auch dazu genutzt, um im Lazarett vorbeizugehen, um nach einem seiner Leute zu schauen, der im Niemandsland auf eine Mine getreten war und einen Fuß verloren hatte. Die Krankenschwester jedoch, eine kleine estländische Frau mit traurigen Augen in tiefen, dunklen Höhlen, die so blau waren, dass ihr Gesicht fast wie eine Maske aussah, hatte nur den Kopf geschütteltund das deutsche Wort gesagt, mit dem sie vermutlich die meiste Übung hatte: »Tot.«
    Edvard musste sehr niedergeschlagen ausgesehen haben, denn sie hatte irgendwie versucht, ihn aufzumuntern, und ihm ein Bett gezeigt, in dem ein anderer Norweger lag.
    »Leben« , hatte sie gesagt und ihn angelächelt. Doch ihre Augen waren dabei noch immer voller Trauer.
    Edvard kannte den schlafenden Mann in dem Bett nicht, doch als er den glänzenden weißen Ledermantel sah, der über dem Stuhl hing, wusste er plötzlich, wer dort lag: Das war der Kompaniechef Lindvig vom Regiment Norge höchstpersönlich. Eine Legende. Und jetzt lag er hier! Er entschloss sich, seinen Jungen diese Neuigkeit vorzuenthalten.
    Wieder donnerte ein Jagdbomber über seinen Kopf hinweg. Wo kamen plötzlich all diese Flugzeuge her? Noch letzten Herbst hatte es so ausgesehen, als hätten die Russen keine mehr.
    Er umrundete die nächste Ecke und sah Dale mit gekrümmtem Rücken vor sich stehen.
    »Dale!«
    Dale drehte sich nicht um. Seit der Granatendetonation, bei der er im November ohnmächtig geworden war, hörte er nicht mehr besonders gut. Er sprach auch nicht mehr viel und hatte stattdessen diesen glasigen, abwesenden Blick, den Männer mit Granatenschock oft bekamen. Dale hatte in der ersten Zeit über Kopfschmerzen geklagt, doch der Sanitätsoffizier, der nach ihm gesehen hatte, hatte gemeint, er könne nicht viel für ihn tun und dass das mit der Zeit von selbst vorüberginge. Der Mangel an Soldaten sei so groß, dass sie es sich nicht erlauben könnten, gesunde Menschen ins Lazarett zu schicken.
    Edvard legte einen Arm auf Dales Schulter, der sich so schnell und kraftvoll umdrehte, dass Edvard auf dem Eis, das in der Sonne weich und glatt geworden war, den Halt verlor. Auf jeden Fall ist es ein milder Winter, dachte Edvard und musste lachen, als er auf dem Rücken lag, doch sein Lachen blieb ihm im Halse stecken, als er in Dales Gewehrmündung schaute.
    »Passwort!«, schrie Dale. Über dem Korn sah Edvard ein weit aufgerissenes Auge.
    »He, hallo, Dale, ich bin’s!«
    »Passwort!«
    »Nimm das Gewehr weg! Ich bin’s, Edvard, verdammt noch mal!« »Passwort!«
    »Gluthaufen!«
    Edvard spürte die Panik in sich hochkriechen, als er sah, wie sich Dales Finger um den Abzug krümmte. Hörte er ihn denn nicht?
    »Gluthaufen!«, schrie er aus vollen Lungen. »Gluthaufen, verdammt noch mal!«
    »Falsch! Ich schieße!«
    Mein Gott, der Mann war verrückt! In diesem Moment fiel Edvard ein, dass sie an diesem Morgen das Passwort geändert hatten, nachdem er zum Nordabschnitt aufgebrochen war. Dales Finger drückte gegen den Abzug, doch der wollte sich nicht weiter bewegen lassen. Eine merkwürdige Falte zeichnete sich über dem Auge ab. Dann entsicherte er die Waffe und legte erneut an. Sollte es so enden? Musste er nach allem, was er überlebt hatte, durch die Kugel eines unter Schock stehenden Landsmannes sterben? Edvard starrte in die schwarze Gewehrmündung und wartete auf den Feuerstoß. Würde er ihn sehen können? Jesus im Himmel. Er sah an der Gewehrmündung vorbei in den blauen Himmel, vor dem sich ein schwarzes Kreuz abzeichnete, ein russischer Jagdflieger. Er war zu hoch, als dass er ihn hätte hören können. Dann schloss er die Augen.
    »Engelsstimme!«, rief jemand ganz in der Nähe.
    Edvard öffnete die Augen und sah Dale zweimal hinter der Kimme blinzeln.
    Es war Gudbrand. Er hatte sein Mund an Dales Ohr gelegt und brüllte ihm das Wort hinein.
    »Engelsstimme!«
    Dale ließ das Gewehr sinken. Dann grinste er Edvard an und nickte. »Engelsstimme«, wiederholte er.
    Edvard schloss die Augen wieder und atmete aus.
    »Ist Post da?«, fragte Gudbrand.
    Edvard rappelte sich auf und gab den Stapel Papiere an Gudbrand weiter. Dale hatte noch immer das Lächeln

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