Rotkehlchen
donnerte. Er flog so tief, dass der Schnee vom Boden aufgewirbelt wurde. Dann war er verschwunden und alles war wieder still.
»Was war das denn …?«, flüsterte Gudbrand.
»Gott im Himmel«, stöhnte Edvard, wälzte sich auf die Seite und lachte Gudbrand an. »Ich konnte den Piloten erkennen, er hatte die Glashaube zurückgeschoben und lehnte sich aus dem Cockpit. Der Iwan ist verrückt geworden.« Er lachte derart, dass sich seine Stimme überschlug. »Was ist das nur für ein Tag.«
Gudbrand starrte auf das zerbrochene Streichholz, das er noch immer in den Händen hielt. Dann begann auch er zu lachen.
»Hehe«, sagte Dale und sah die zwei von seinem Platz am Rand des Schützengrabens aus an. »Hehe.«
Gudbrand warf einen kurzen Blick zu Edvard hinüber und dann brüllten sie vor Lachen. Sie lachten derart laut, dass sie das merkwürdige Geräusch, das sich näherte, zu Beginn gar nicht wahrnahmen.
Kack – Kack …
Es hörte sich an, als schlüge jemand langsam mit einer Hacke auf das Eis.
Kack …
Dann hörten sie ein Knallen, Metall auf Metall, und Gudbrand und Edvard drehten sich zu Dale um, der langsam seitlich in den Schnee sackte.
»Himmel noch mal …«, begann Gudbrand.
»Granaten!«, schrie Edvard.
Gudbrand reagierte instinktiv auf Edvards Rufen und rollte sich am Boden zusammen, doch während er dalag, erblickte er den Stab, der sich einen Meter vor ihm im Kreis drehte. An dem einen Ende war ein Metallklumpen befestigt. Er spürte, wie sein Körper erstarrte, als er begriff, was geschehen sollte.
»Komm da weg!«, brüllte Edvard hinter ihm.
Es stimmte, die russischen Piloten warfen also wirklich Handgranaten aus dem Flugzeug! Gudbrand lag auf dem Rücken und versuchte,sich wegzuschieben, doch weder Arme noch Beine fanden auf dem nassen Eis Halt.
»Gudbrand!«
Die Granate drehte sich noch immer, hüpfte und tanzte über das Eis, und Gudbrand konnte seinen Blick nicht davon losreißen. Vier Sekunden vom Entsichern bis zur Explosion, hatten sie das nicht in Sennheim gelernt? Die Russen hatten vielleicht andere Granaten, vielleicht waren es da sechs? Oder acht? Die hier drehte sich jedenfalls immer weiter wie einer der großen roten Kreisel, die sein Vater ihm in Brooklyn gebaut hatte. Gudbrand drehte sie, und Sonny und sein kleiner Bruder standen daneben und zählten, wie lange sie sich drehten. »Twenty-one, twenty-two …« Ihre Mutter rief ihnen aus dem Fenster in der dritten Etage zu, das Essen sei fertig und er solle hochkommen, weil Vater jeden Augenblick nach Hause käme. »Nur noch ein bisschen«, rief er ihr zu. »Der Kreisel dreht sich noch!« Doch sie hörte ihn nicht, sie hatte das Fenster bereits wieder geschlossen. Edvard schrie nicht mehr, es war ganz plötzlich vollkommen still geworden.
Dr. Buers Wartezimmer, 22. Januar 1999
22 Der Alte sah auf die Uhr. Er saß jetzt seit einer Viertelstunde im Wartezimmer. Früher, zu Konrad Buers Zeiten, hatte er nie warten müssen. Konrad hatte nicht mehr Patienten angenommen, als sein Zeitplan zuließ.
Am anderen Ende des Raumes saß ein Mann Dunkelhäutig, afrikanisch. Er blätterte in einer Illustrierten, und der Alte stellte fest, dass er sogar aus dieser Entfernung jeden Buchstaben auf der Titelseite lesen konnte. Etwas über die Königsfamilie. War es das, was der Afrikaner las? Der Gedanke war absurd.
Der Afrikaner blätterte um. Er hatte einen Bart, der sich an den Seiten nach unten zog, genau wie der Kurier, den der Alte in der vergangenen Nacht getroffen hatte. Es war eine kurze Begegnung gewesen. Der Kurier war in einem Volvo, sicher ein Leihwagen, am Containerhafen angekommen. Er hatte angehalten; die Fensterscheibe hatte sich mit einem summenden Ton gesenkt und dann hatte derMann das Passwort gesagt: Voice of an Angel. Und der hatte genau so einen Bart gehabt. Und sorgenvolle Augen. Er hatte sogleich erklärt, dass er die Waffe aus Sicherheitsgründen nicht im Auto habe, sondern dass sie noch ein Stück fahren müssten, um sie zu holen. Der Alte hatte gezögert, dachte aber, dass sie, falls sie ihn ausrauben wollten, das an Ort und Stelle im Containerhafen hätten erledigen können. So hatte er sich in den Wagen gesetzt und sie waren losgefahren, zu allem Überfluss zum Radisson SAS Hotel am Holberg Plass. Er hatte Betty Andresen hinter der Rezeption gesehen, als sie hineingingen, doch sie hatte nicht in seine Richtung geschaut.
Der Kurier hatte das Geld im Koffer gezählt und dabei die Zahlen auf Deutsch
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