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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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über den Youngstorget und schwang die grüne Plastiktüte hin und her. Vor zwanzig Minuten hatte er blank und mit löchrigen Stiefeln bei Herbert gesessen, und jetzt ging er hier mit glänzend neuen, hohen Springerstiefeln, die er bei Top Secret in der Henrik Ibsen Gate gekauft hatte. Und dann hatte er auch noch den Umschlag, in dem acht nagelneue Tausender steckten. Und zehn weitere sollten kommen. Es war schon merkwürdig, wie schnell sich alles ändern konnte. Noch im Herbst war er auf dem Weg in den Bau gewesen, als seinem Anwalt quasi in letzterMinute die dicke Matrone aufgefallen war, die der Richter am falschen Ort vereidigt hatte!
    Sverre hatte derart gute Laune, dass er darüber nachdachte, ob er Halle, Gregersen und Kvinvik an seinen Tisch einladen und ihnen ein Bier spendieren sollte. Nur um zu sehen, wie sie reagierten. Ja, verdammt!
    Er überquerte die Ploensgate vor einer Pakistanerin mit Kinderwagen und grinste sie vielsagend an. Er war schon fast an der Tür von Herbert’s Pizza, als ihm einfiel, dass es keinen Sinn hatte, eine Plastiktüte mit ausrangierten Stiefeln mit sich herumzuschleppen. Er trat in einen Hauseingang, hob den Deckel einer der schweren Mülltonnen hoch und legte die Tüte hinein. Auf dem Weg nach draußen fielen ihm zwei Beine auf, die zwischen zwei weiter hinten stehenden Tonnen herausragten. Er sah sich um. Niemand auf der Straße. Niemand im Hinterhof. Wer war das? Ein Säufer, ein Junkie? Er trat einen Schritt näher. Die Mülltonnen hatten Räder, und dort, wo die Beine herausragten, waren sie ganz dicht aneinander geschoben worden. Er spürte, wie sein Puls schneller ging. Manche Junkies wurden wütend, wenn man sie störte. Sverre stellte sich ein wenig seitlich vor die Tonne und trat gegen sie, so dass sie zur Seite rollte.
    »Verdammte Scheiße!«
    Es war seltsam, dass Sverre Olsen, der beinahe selbst einen Mann getötet hatte, noch nie zuvor einen Toten gesehen hatte. Und ebenso seltsam war es, dass seine Beine fast unter ihm nachgegeben hätten. Der Mann, der an die Wand gelehnt dasaß und mit offenen Augen in die unterschiedlichsten Richtungen starrte, war so tot, wie es nur möglich war. Die Todesursache war offensichtlich. Der klaffende rote Spalt in seinem Hals verriet, wo man ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Das Blut sickerte nur noch langsam heraus, doch zu Beginn musste es heftig aus dem Körper gepumpt worden sein, denn der rote Islandpulli des Mannes war von Blut durchtränkt. Der Gestank von Müll und Urin war überwältigend, und Sverre spürte gerade noch den Geschmack von Galle, bevor es in seinem Hals emporschoss; zwei Bier und eine Pizza. Schließlich lehnte er sich an eine Mülltonne und kotzte auf den Asphalt. Seine Stiefelspitzen waren gelb von Erbrochenem, doch das bemerkte er nicht. Er starrte bloß auf das kleine rote Rinnsal, das in der schwachen Beleuchtung glänzte, während es auf den tiefsten Punkt des Terrains zufloss.
     
    Leningrad, 17. Januar 1944
     
    21 Ein russischer YAK-1-Jagdflieger donnerte über Edvard Moskens Kopf hinweg, während er durch den Schützengraben hastete.
    Die Jagdbomber richteten für gewöhnlich nur wenig Schaden an, denn es hatte den Anschein, als hätten die Russen keine Bomben mehr. Kürzlich hatte er gehört, die russischen Piloten seien mit Handgranaten ausgestattet worden, mit denen sie beim Überflug ihre Stellungen zu treffen versuchten.
    Edvard war im Nordabschnitt gewesen, um die Briefe für seine Leute zu holen und die letzten Neuigkeiten zu hören. Den ganzen Herbst über hatten sie deprimierende Nachrichten über Niederlagen und Rückzüge an der gesamten Ostfront erhalten. Bereits im November hatten die Russen Kiew zurückerobert und im Oktober wären die südlichen Einheiten der Deutschen um ein Haar am Schwarzen Meer eingeschlossen worden. Dass Hitler die Ostfront geschwächt hatte, indem er Truppen an die Westfront abgezogen hatte, machte die Sache nicht leichter. Doch das Beunruhigendste hatte Edvard heute erfahren: Vor zwei Tagen hatte Generalleutnant Gusew eine gewaltige Offensive bei Oranienbaum im Süden des Finnischen Meerbusens begonnen. Edvard erinnerte sich an Oranienbaum. Das war ein kleiner Brückenkopf, an dem sie bei ihrem Marsch auf Leningrad einfach vorbeimarschiert waren. Sie hatten ihn den Russen gelassen, denn er war ohne strategischen Wert gewesen. Jetzt war es den Russen still und heimlich gelungen, eine ganze Armee um Kronstadt herum zu versammeln, und den Berichten zufolge

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