Rotkehlchen
auf den Lippen, doch sein Gesicht sah dabei leer aus. Edvard umklammerte Dales Gewehrmündung und richtete sich auf, sein Gesicht dicht vor ihm.
»Ist jemand im Schützengraben, Dale?«
Er wollte das mit normaler Stimme sagen, doch es wurde nur ein raues, heiseres Krächzen.
»Er kann dich nicht hören«, erklärte Gudbrand, während er die Briefe durchblätterte.
»Ich wusste nicht, dass es ihm so schlecht geht«, sagte Edvard und wedelte mit seiner Hand vor Dales Gesicht herum.
»Er sollte nicht hier sein. Hier ist ein Brief von seiner Familie. Zeig ihm den, dann weißt du, was ich meine.«
Edvard nahm den Brief und hielt ihn Dale vor die Nase, doch er musste erkennen, dass dieser nach einem flüchtigen Lächeln wieder starr und abwesend vor sich hin glotzte.
»Du hast Recht«, sagte er. »Der ist fertig.«
Gudbrand reichte Edvard einen Brief. »Wie geht es zu Hause?«, fragte er.
»Ach, du weißt schon«, antwortete Edvard und betrachtete lange den Brief.
Gudbrand wusste nichts, denn seit dem letzten Winter hatte er mit Edvard nicht mehr allzu viel gesprochen. Es war verwunderlich, doch selbst hier und unter diesen Umständen war es möglich, sich aus dem Weg zu gehen, wenn man es sich nur stark genug wünschte. Nicht dass Gudbrand Edvard nicht mochte, ganz im Gegenteil, er hatte Respekt vor dem Mjøndaler, den er nicht nur für einen klugen Mann hielt, sondern auch für einen mutigen Soldaten, der den Neuankömmlingen im Lager immer wieder Halt gab. Im Herbst hatten sie Edvard zum Scharführer gemacht, was im norwegischen Heer dem Sergeanten entsprach, doch seine Verantwortung war die gleiche. Im Spaß hatte Edvard gesagt, sie beförderten ihn doch nur, weil alle anderen Sergeanten tot seien, weshalb sie so viele Mützen übrig hätten.
Gudbrand hatte oft gedacht, dass sie beide unter anderen Bedingungen gute Freunde hätten werden können. Doch was letzten Winter geschehen war, Sindres Flucht und das geheimnisvolle Wiederauftauchen von Daniels Leiche, hatte die ganze Zeit über zwischen ihnen gestanden.
Der dumpfe Laut einer entfernten Explosion zerriss die Stille, gefolgt vom Geknatter der Maschinengewehre.
»Es wird wohl immer heftiger«, sagte Gudbrand, mehr fragend als feststellend.
»Ja«, sagte Edvard. »Das ist die verfluchte Wärme. Unser Nachschub sitzt im Matsch fest.«
»Müssen wir uns zurückziehen?«
Edvard zuckte mit den Schultern. »Ein paar Meilen vielleicht. Aber wir kommen wieder.«
Gudbrand hielt sich die Hand über die Augen und blickte nach Osten. Er hatte keine Lust zurückzukommen. Er hatte Lust, nach Hause zurückzukehren, um zu sehen, ob es dort ein Leben für ihn gab.
»Hast du das norwegische Straßenschild unten am Lazarett gesehen, das mit dem Sonnenkreuz?«, fragte er. »Und dem Pfeil, der den Weg entlang nach Osten zeigt und auf dem ›Leningrad 5 Kilometer‹ steht?«
Edvard nickte.
»Erinnerst du dich, was auf dem Pfeil steht, der nach Westen weist?«
»Oslo«, sagte Edvard. »2611 Kilometer.«
»Das ist weit.«
»Ja, das ist weit.«
Dale hatte Edvard sein Gewehr überlassen. Er saß auf dem Boden und hatte seine Hände vor sich im Schnee vergraben. Sein Kopf hing wie ein geknickter Löwenzahn zwischen seinen schmalen Schultern. Wieder hörten sie eine Explosion, dieses Mal näher.
»Danke, dass du …«
»Keine Ursache«, beeilte sich Gudbrand zu versichern.
»Ich habe Olaf Lindvig im Lazarett gesehen«, sagte Edvard. Er wusste nicht, warum er es gesagt hatte. Vielleicht, weil Gudbrand neben Dale derjenige der Truppe war, der genauso lange wie er selbst dabei war.
»War er …?«
»Nur leicht verwundet, glaube ich. Ich habe seinen weißen Waffenrock gesehen.«
»Es heißt, er sei ein guter Mann.«
»Ja, wir haben viele gute Männer.«
Sie blieben still voreinander stehen.
Edvard räusperte sich und steckte eine Hand in die Tasche.
»Ich hab ein paar russische Zigaretten aus dem Nordabschnitt mitgebracht. Wenn du Feuer hast …«
Gudbrand nickte, knöpfte seine Tarnjacke auf, fand die Streichhöher und zündete eines auf dem groben Papier an. Als er wieder aufblickte, sah er zuerst nur Edvards weit aufgerissenes Zyklopenauge. Es starrte über seine Schulter. Dann hörte er den heulenden Laut.
»Runter!«, schrie Edvard.
Im nächsten Augenblick lagen sie auf dem Eis und über ihnen zerriss der Himmel mit einem kreischenden Laut. Gudbrand konnte gerade noch das Heck des russischen Jagdbombers sehen, der längs über ihren Schützengraben
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