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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Singapur-Kugeln, die gleichen, die sie in Bosnien benutzt haben. Die öffnen sich nach hundert Metern und bohren sich wie ein Bohrer durch alles, was sie treffen. Beiden schoss er in den Hals, und da war es ausnahmsweise mal egal, dass es – wie immer in schwarzen Townships – eine Stunde dauerte, bis ein Krankenwagen auftauchte.«
    Harry antwortete nicht.
    »Aber du irrst dich, wenn du glaubst, dass wir auf Rache aus sind, Harry. Wir haben begriffen, dass es nicht möglich ist, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage des Hasses aufzubauen. Deshalb hat die erste demokratisch gewählte schwarze Regierung des Landes eine Kommission eingerichtet, die sich um die Übergriffe während der Apartheid kümmerte. Dabei ging es nicht um Rache, sondern um Bekenntnis und Vergebung. Das hat viele Wunden geheilt und der ganzen Gesellschaft gut getan. Doch gleichzeitig sind wir im Begriff, den Kampf gegen die Kriminalität zu verlieren, besonders hier in Joeburg, wo die Dinge vollkommen außer Kontrolle geraten sind. Wir sind eine junge, verletzbare Nation, Harry, und wenn es mit uns weitergehen soll, müssen wir beweisen, dass Recht und Ordnung eine Bedeutung haben und dass das Chaos nicht als Entschuldigung für weitere Verbrechen herhalten darf. Jeder hier erinnert sich an die Morde von 1994 und alle verfolgen die Sache jetzt in den Zeitungen. Deshalb ist diese Sache wichtiger als deine oder meine private Agenda, Harry.«
    Er ballte seine Faust und schlug noch einmal aufs Lenkrad.
    »Es geht nicht darum, dass wir uns als Richter über Leben und Tod aufspielen, sondern darum, dem einfachen Volk den Glauben an die Gerechtigkeit zurückzugeben. Und manchmal braucht es die Todesstrafe, um ihnen diesen Glauben zu geben.«
    Harry schnippte eine Zigarette aus dem Päckchen, öffnete das Fenster einen Spaltbreit und blickte zu den gelben Schlackehügeln hinaus, die die monotone, trockene Landschaft durchbrachen.
    »Was sagst du dazu, Harry?«
    »Dass du Gas geben musst, damit ich mein Flugzeug noch kriege, Esaias.«
    Esaias schlug derart hart auf das Lenkrad, dass Harry sich wunderte, wie das Rad es aushielt.
     
    Lainzer Tiergarten, Wien, 27. Juni 1944
     
    33 Helena saß allein auf dem Rücksitz von André Brockhards schwarzem Mercedes. Das Auto rauschte langsam zwischen den mächtigen Rosskastanien hindurch, die die Allee auf beiden Seiten säumten. Sie waren auf dem Weg zu den Ställen im Lainzer Tiergarten.
    Ihr Blick schweifte über die grünen Lichtungen. Hinter ihnen hing eine Staubwolke über dem trockenen Kiesweg und selbst mit geöffnetem Fenster war es unerträglich heiß im Wagen.
    Ein paar Pferde, die im Schatten am Rand des Buchenwaldes grasten, hoben die Köpfe, als das Auto vorbeifuhr.
    Helena liebte den Lainzer Tiergarten. Vor dem Krieg hatte sie in diesem großen Waldgebiet auf der Südseite des Wienerwalds oft ihre Sonntage verbracht; sie hatte mit ihren Eltern, Onkeln oder Tanten gepicknickt oder war mit Freunden ausgeritten.
    Sie war auf alles vorbereitet gewesen, als sie am Morgen von der alten Schwester im Krankenhaus den Bescheid erhalten hatte, André Brockhard wolle sie sprechen und ihr am Vormittag einen Wagen schicken. Seit sie das Empfehlungsschreiben der Krankenhausleitung und die Ausreisegenehmigung in den Händen hatte, war sie wie auf Wolken gegangen, und so war ihr erster Gedanke gewesen, diese Gelegenheit zu nutzen, um Christophers Vater für die Hilfe zu danken. Doch dann dachte sie daran, dass André Brockhard sie wohl kaum zu sich gebeten hatte, damit sie sich bei ihm bedanken könnte.
    Immer mit der Ruhe, Helena, dachte sie. Sie können uns jetzt nicht mehr aufhalten. Morgen früh sind wir weg von hier.
    Am vorigen Tag hatte sie zwei Koffer mit Kleidern und ihren liebsten Sachen gepackt. Als Letztes hatte sie das Kruzifix, das über ihrem Bett hing, in den Koffer gelegt. Die Spieldose, die sie von ihremVater erhalten hatte, stand noch immer auf dem Toilettentischchen. Es war merkwürdig, wie wenig ihr jetzt Sachen bedeuteten, von denen sie sich freiwillig nie hatte trennen wollen. Beatrice hatte ihr geholfen und sie hatten über alte Zeiten geredet, während sie den Schritten der Mutter lauschten, die unten auf dem Flur auf und ab marschierte. Es würde ein harter, schwieriger Abschied werden. Doch jetzt dachte sie nur noch an heute Abend. Urias hatte nämlich gesagt, es sei wirklich unverzeihlich, wenn er nicht etwas von Wien zu sehen bekäme, ehe er fortging, und dann hatte er sie zum Essen

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