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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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eingeladen. Wohin, wusste sie nicht, er hatte ihr nur geheimnisvoll zugezwinkert und gefragt, ob sie sich wohl noch einmal das Auto des Försters leihen könnte.
    »Da wären wir, Fräulein Lang«, sagte der Chauffeur und deutete nach vorn, wo die Allee an einem Springbrunnen endete. Über dem Wasser balancierte ein vergoldeter Amor auf einem Bein auf einer Kugel aus Speckstein. Dahinter lag ein graues steinernes Herrschaftshaus. Auf jeder Seite des Gebäudes standen zwei lang gestreckte, niedrige Holzhäuser, die gemeinsam mit einem weiteren einfachen Steinhaus den Innenhof hinter dem Hauptgebäude umringten.
    Der Chauffeur hielt den Wagen an, stieg aus und öffnete Helena die Tür.
    André Brockhard hatte an der Tür des Herrschaftshauses gewartet. Jetzt kam er auf sie zu und seine blanken Reitstiefel glänzten in der Sonne. André Brockhard war weit über fünfzig, doch sein Gang war so schwungvoll wie der eines Jugendlichen. Wegen der Wärme hatte er seine rote Wolljacke aufgeknöpft, doch er wusste wohl auch, dass sein athletischer Körper so besser zur Geltung kam. Die Reithosen lagen eng um seine muskulösen Beine. Brockhard senior erinnerte mit keiner Faser an seinen Sohn.
    »Helena!« Seine Stimme war genauso herzlich und warm, wie es bei Menschen möglich ist, die so mächtig sind, dass sie selbst entscheiden, wann eine Situation herzlich und warm sein soll. Es war lange her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, doch es kam Helena so vor, als sähe er aus wie immer: die weißen Haare, die hochgewachsene Gestalt, die majestätische Nase und die blauen Augen, die sie ansahen. Der herzförmige Mund ließ erkennen, dass dieser Mann auch eine weiche Seite haben konnte, doch die hatte er den meisten bislang vorenthalten.
    »Wie geht es Ihrer Mutter? Ich hoffe, es war nicht zu dreist von mir, Sie auf diese Weise von der Arbeit wegzulotsen«, sagte er und reichte ihr kurz und trocken die Hand. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort:
    »Ich muss mit Ihnen sprechen und war der Meinung, dass es eilte.« Er breitete seine Hände aus. »Ja, hier waren Sie wohl schon einmal.«
    »Nein«, sagte Helena und blinzelte ihm lächelnd entgegen. »Nicht? Ich dachte, Christopher hätte Sie irgendwann einmal hierher mitgebracht. Als Kinder wart ihr doch unzertrennlich.«
    »Da spielt Ihnen Ihre Erinnerung wohl einen kleinen Streich, Herr Brockhard. Christopher und ich, wir kannten uns wohl, aber …« »Wirklich? Aber dann muss ich Sie herumführen. Lassen Sie uns zu den Ställen hinuntergehen.«
    Er legte seine Hand leicht auf ihren Rücken und steuerte sie in Richtung der lang gestreckten Holzgebäude. Der Kies knirschte unter ihren Schritten.
    »Es ist so traurig, was mit Ihrem Vater geschehen ist, Helena. Es tut mir wirklich Leid. Ich wäre froh, etwas für Sie und Ihre Frau Mutter tun zu können.«
    Sie hätten uns wie sonst immer zu Ihrem Weihnachtsempfang einladen können, dachte Helena, sagte aber nichts. Im Grunde war es ihr ganz recht gewesen. So war ihr wenigstens das Gezeter ihrer Mutter erspart geblieben, doch auch mitzukommen.
    »Janic!«, rief Brockhard einen schwarzhaarigen Jungen an, der in der Sonne an der Wand stand und Zaumzeug putzte. »Hol Venezia.«
    Der Junge verschwand im Stall, und Brockhard blieb stehen und schlug sich mit der Peitsche leicht über das Knie, während er mit den Füßen auf und ab wippte. Helena warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
    »Ich fürchte, ich kann nicht so lange bleiben, Herr Brockhard. Mein Dienst …«
    »Ja, natürlich, ich verstehe. Dann will ich gleich zur Sache kommen.«
    Von drinnen hörten sie hitziges Gewieher und das Geklapper von Hufen auf Holzplanken.
    »Wie Sie vielleicht wissen, haben Ihr Vater und ich ein paar Geschäfte miteinander gemacht. Vor seinem traurigen Konkurs, natürlich.« »Das weiß ich.«
    »Ja, und Sie wissen auch, dass Ihr Vater eine Menge Schulden hatte. Das war ja indirekt der Grund für all das, was dann geschehen ist. Ich meine diese unglückliche … « Er suchte nach dem richtigen Wort und fand es:
    »… Affinität zu den jüdischen Wucherern, die hat ihm ja wirklich nicht gut getan.«
    »Sie meinen Joseph Bernstein?«
    »Ich kann mir die Namen dieser Menschen nicht merken.«
    »Das sollten Sie aber, er war doch ein häufiger Gast bei Ihren Weihnachtsempfängen.«
    »Joseph Bernstein?« André Brockhard lachte, doch das Lachen gelangte nicht bis in seine Augen. »Das muss viele Jahre her sein.« »Weihnachten 1938, vor dem

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