Rotkehlchen
Handgranate verletzt, die ein russischer Jagdflieger in den Schützengraben geworfen hatte.«
»Ein Jagdflieger? Aus einem Flugzeug?«
Mosken lächelte schief und nickte.
»Als ich im Lazarett aufwachte, war der Rückzug in vollem Gange. Im Spätsommer 1944 war ich schließlich im Lazarett in der Sinsen-Schule in Oslo. Dann kam die Kapitulation.«
»Seit dieser Verwundung haben Sie keinen der anderen wiedergesehen?«
»Nur Sindre. Drei Jahre nach dem Krieg.«
»Nachdem Sie Ihre Strafe abgesessen hatten?«
»Ja. Wir trafen uns ganz zufällig in einem Restaurant.« »Was halten Sie von seiner Desertion?«
Mosken zuckte mit den Schultern.
»Er hatte wohl seine Gründe. Auf jeden Fall hat er die Seite gewechselt, als noch nicht klar war, wie es ausgehen würde. Das ist mehr, als was man von den meisten Norwegern sagen kann.«
»Wie meinen Sie das denn?«
»Im Krieg hatten wir ein Sprichwort: Wer mit der Entscheidung wartet, wird sich auf jeden Fall richtig entscheiden. Weihnachten 1943 sahen wir wohl, dass wir auf verlorenem Posten standen, doch niemand wusste wirklich, wie schlecht es stand. Man kann Sindrewohl kaum den Vorwurf machen, ein Wetterfähnchen zu sein. Wie die hier zu Hause, die den ganzen Krieg über den Arsch nicht hochgekriegt haben und sich dann, ein paar Monate vor Kriegsende, scharenweise zur Heimatfront gemeldet haben. Wir haben sie immer nur die Heiligen der letzten Tage genannt. Einige davon gehören heute zu denen, die sich öffentlich über den heldenmutigen Kriegseinsatz der Norweger für die richtige Sache auslassen.«
»Denken Sie an jemand Spezielles?«
»Man denkt doch immer an den einen oder anderen, der im Nachhinein mit einer schillernden Heldenglorie ausgestattet wurde. Aber das ist nicht so wichtig.«
»Wie steht’s mit Gudbrand Johansen? Erinnern Sie sich an ihn?« »Naürlich. Er hat mir da am Ende das Leben gerettet. Er …« Mosken biss sich auf die Unterlippe. Als hätte er schon zu viel gesagt, dachte Harry.
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Mit Gudbrand? Wenn ich das wüsste. Die Granate … da waren Gudbrand, Hallgrim Dale und ich im Schützengraben, als dieses Ding über das Eis auf uns zugerutscht kam und Dale auf den Helm knallte. Ich weiß nur noch, dass Gudbrand am nächsten war, als sie explodierte. Als ich aus dem Koma aufwachte, konnte mir keiner sagen, was mit Gudbrand oder Dale geschehen war.«
»Wie meinen Sie das? Waren die verschwunden?«
Moskens Augen schweiften zum Fenster.
»Das geschah am gleichen Tag, als die russische Offensive so richtig losging. Das waren, vorsichtig ausgedrückt, chaotische Verhältnisse. Der Schützengraben, in dem das geschehen war, war längst in die Hände der Russen gefallen, als ich aufwachte, und das Regiment war an einen anderen Ort befehligt worden. Wenn Gudbrand überlebt hat, ist er vermutlich ins Lazarett des Regimentes Nordland gekommen, im Nordabschnitt. Desgleichen Dale, wenn er verletzt worden ist. Ich muss wohl auch dort gewesen sein, aber als ich aufgewacht bin, war ich bereits an einem anderen Ort.«
»Gudbrand Johansen steht nicht im Volksregister.«
Mosken zuckte mit den Schultern.
»Dann hat ihn diese Granate wohl getötet. Davon bin ich ohnehin ausgegangen.«
»Sie haben also niemals versucht, ihn zu finden?«
Mosken schüttelte den Kopf.
Harry blickte sich uni auf der Suche nach irgendetwas, was darauf hindeuten konnte, dass Mosken Kaffee im Haus hatte – eine Kanne, eine Tasse. Auf dem Kamin stand die Fotografie von einer Frau in einem goldenen Rahmen.
»Sind Sie aufgebracht über das, was nach dem Krieg mit Ihnen und den anderen Frontkämpfern geschehen ist?«
»Was die Strafe angeht – nein. Da bin ich Realist. Der Prozess verlief so, wie er verlaufen musste. Das war politisch notwendig. Ich hatte einen Krieg verloren. Ich beklage mich nicht.«
Edvard Mosken lachte plötzlich wie eine krächzende Elster, und Harry wusste nicht, warum. Dann wurde er wieder ernst.
»Was wehtat, war, dass wir als Landesverräter abgestempelt wurden. Aber ich tröste mich damit, dass wir, die wir dort waren, wissen, dass wir unser Land unter Einsatz unseres Lebens verteidigt haben.«
»Ihre damaligen politischen Ansichten waren …«
»Ob ich heute noch die gleichen Ansichten habe?«
Harry nickte und Mosken lächelte trocken.
»Die Frage ist leicht zu beantworten, Herr Kommissar. Nein. Ich habe mich geirrt. So einfach ist das eigentlich.«
»Sie haben später keinen Kontakt mehr zum Neonazimilieu
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