Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
eine sexuelle Beziehung zu Dahlin eingestanden. Hultin hatte diese Frauen aufgesucht und unangenehme Gespräche geführt. Gebracht hatte das alles wenig, die meisten waren Zufallsbekanntschaften gewesen, waren ein- oder zweimal mit Dahlin im Bett gewesen und wussten dementsprechend wenig über den Mann und sein Leben zu erzählen. Nett sei er gewesen, sagten die meisten, aber was hieß das schon, nett? Am interessantesten hatte Hultin die Aussage einer dreiundsechzigjährigen Bürokauffrau gefunden, die gemeint hatte, Janus Dahlin habe seine Verzweiflung mit Begehren verwechselt. Unter dem Strich war die Ausbeute dieser Unterhaltungen dünn gewesen, jedoch hatten sie in Hultin ein merkwürdiges, irritierendes Gefühl ausgelöst. Ihr erschien die Wahl von Dahlins Partnerinnen vollkommen willkürlich. Die Frauen, mit denen sie gesprochen hatte, waren alt oder jung, hübsch oder unattraktiv, gebildet oder einfältig, es gab keinen Typ, kein Muster, keine Linie, sie hatte den Eindruck, dieser Mann habe mit jeder Frau geschlafen, die sich auf ihn eingelassen habe.
Selbst nachdem Hultin Feierabend hatte, hielt ihre Irritation an, gleichzeitig fühlte sie sich aufgekratzt. Ausgerechnet heute hatte sie selbst eine Verabredung. Nach dem Abendessen duschte sie lange, rasierte sich die Beine und schminkte sich sorgfältig – man wusste ja nie. Nur weil es ein Internet-Date war und sie den dunklen Gentleman Mitte dreißig, wohnhaft in Växjö, Angestellter im öffentlichen Dienst, Nickname Sixpack78 auf einer dieser Onlinekontaktbörsen kennengelernt hatte, musste es ja nicht automatisch ein Reinfall werden. So wie mit BigPelle, Petshopboy80 oder leider auch Samuel, der zwar tatsächlich so gut ausgesehen hatte, wie sein Foto verhießen hatte, aber dafür mit 32 Jahren noch bei seinen Eltern wohnte. Wie abtörnend war das denn, bitte schön?
Neuer Anlauf, neues Glück. Heute also Sixpack78. Sie war zwar wahnsinnig müde, auch mitgenommen von den furchtbaren Geschehnissen bei der Arbeit, und der Tarnname ihrer Verabredung war ehrlich gesagt nicht gerade der Inbegriff von Seriosität, barg dafür aber ein Versprechen, und ein bisschen Ablenkung konnte ja wohl niemandem schaden. Und falls sogar mehr dabei herauskommen sollte, umso besser. Sie musste ja nicht unbedingt als letzter Single Växjös in die Geschichte eingehen, vor allem nicht, wenn in ihrem Bekanntenkreis die Babys in den letzten Jahren nur so herausgekullert waren. Und bevor ihre Freundinnen und Freunde anfingen, sie zu bedauern oder Verkupplungsessen zu schmeißen, nahm sie die Angelegenheit lieber selbst in die Hand. Fotos waren noch nicht ausgetauscht worden, aber sie hatte sich mit dem vermeintlichen Bauchmuskelkönig zwei, drei Mal geschrieben und zugegebenermaßen hatten die Worte dunkler Gentleman ihre Wirkung auf den so lange brachliegenden Teil ihrer Seele und vor allem ihres Körpers entfaltet. Fantasien waren in Gang gesetzt worden.
Dunkel, wie in dunkler Bartschatten?
Dunkel, wie in tiefbraune Augen?
Dunkel, wie in geheimnisvolle Vergangenheit?
Auf jeden Fall galt es, dieser Dunkelheit auf den Grund zu gehen, noch heute Abend, ironischerweise in der hellsten aller Nächte des Jahres, dachte sie, jedenfalls kalendarisch gesehen, denn gefeiert wurde Mittsommer ja erst morgen. Verabredet waren sie im Bishop’s Arms, ihrem Lieblingspub in der Fußgängerzone, da kannte man sie, da fühlte sie sich sicher. Sie war ja keine Anfängerin.
Sie entschied sich für ein leichtes Sommerkleid in Weiß und Rot, das ihre blonden Haare gut zur Geltung brachte. Hochhackige Schuhe, schließlich war Mr Internet angeblich 1,84 Meter. Obwohl man damit vorsichtig sein musste, es hatte sich schon mancher Dating-Riese als Rumpelstilz entpuppt, im real life . Also keine Plateaus, sondern moderate Keilabsätze. Sie legte Parfüm auf und ein leichtes Jäckchen über den Arm, dann spazierte sie durch die warme Abendluft. Pusteblumenflocken trieben vor ihr her. Sie lächelte. Von den schweren Gewittern über Nordschweden, die sie auf der Wetterkarte in den Nachrichten gesehen hatte, war nichts zu spüren. Der südliche Landesteil stand fortwährend unter dem Einfluss des Hochdruckgebietes Laila, das aus irgendeinem Grund, den sie nicht mitbekommen hatte, Russenhitze genannt wurde. Sollen Ingrid und die schräge Stina dort oben doch nass werden, dachte sie, ihre Anwesenheit bei der neuen Fährte war ja anscheinend ungeachtet ihrer Kompetenz und langjährigen Diensterfahrung
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