Rousseau's Bekenntnisse
schmeicheln verstand. In der lächerlichen Angelegenheit mit dem Prediger Petitpierre, der von seinen eigenen Amtsbrüdern vertrieben war, weil er nicht hatte zugeben wollen, daß sie ewig verdammt würden, sah der Lord, der den Anmaßungen der Prediger entgegengetreten war, wie sich das ganze Land, für das er Partei nahm, gegen ihn erhob; und als ich dort anlangte, hatte sich dieses wahnsinnige Wuthgeschrei noch nicht gelegt. Er galt wenigstens für einen Mann, der sich im voraus gewinnen ließ, und von allen Anschuldigungen, mit denen man ihn überhäufte, war diese vielleicht die am wenigsten ungerechte. Als ich diesen ehrwürdigen Greis erblickte, wurde ich zuerst von Rührung über die Magerkeit seines Körpers ergriffen, den die Jahre schon abgezehrt hatten; aber als ich die Augen zu diesem belebten, offenen und edlen Gesichte aufschlug, bemächtigte sich meiner eine mit Vertrauen gemischte Ehrfurcht, die jedes andre Gefühl zurückdrängte. Auf eine sehr kurze Höflichkeit, die ich ihm, als ich vor ihn hintrat, sagte, antwortete er, indem er von andern Dingen sprach, als ob ich schon acht Tage dagewesen wäre. Er forderte uns nicht einmal auf, uns zu setzen. Der wohlbeleibte Gerichtsverwalter blieb stehen. Ich für meine Person sah in des Lords durchdringendem und feinem Auge etwas so eigenthümlich Freundliches, daß ich mich augenblicklich heimisch fühlte und an seiner Seite auf dem Sopha Platz nahm. Dem vertraulichen Ton, den er sofort anschlug, merkte ich es an, daß er sich über diese Ungezwungenheit freute und daß er bei sich selber sagte: das ist kein Neufchâteler.
Merkwürdige Wirkung der großen Übereinstimmung der Charaktere! In einem Alter, in dem das Herz bereits seine natürliche Wärme verloren hat, erwärmte sich das dieses guten Greises für mich in einer alle Welt überraschenden Weise. Unter dem Vorwande Wachteln zu schießen, kam er nach Motiers, um mich zu besuchen, und blieb dort zwei Tage, ohne eine Flinte anzurühren. Es entstand zwischen uns eine solche Freundschaft, denn das ist das richtige Wort, daß wir nicht mehr ohne einander leben konnten. Das Schloß Colombier, welches er im Sommer bewohnte, lag sechs Stunden von Motiers. Spätestens alle vierzehn Tage ging ich hinüber, um dort vierundzwanzig Stunden zu weilen und pilgerte darauf, das Herz stets voll von ihm, in gleicher Weise zurück. Die leidenschaftliche Erregung, die ich ehemals auf meinen Ausflügen von der Eremitage nach Eaubonne empfand, war sicherlich eine ganz andere, aber sicherlich nicht süßer, als die, mit der ich mich Colombier näherte. Wie viele Thränen der Rührung habe ich oft auf meinem Wege vergossen, wenn ich der väterlichen Güte, der liebenswürdigen Tugenden und der milden Philosophie dieses ehrwürdigen Greises gedachte! Ich redete ihn Vater an, er mich Kind. Diese süßen Namen geben eine schwache Vorstellung von unserer gegenseitigen Zuneigung, aber noch keine davon, wie sehr wir einander nöthig hatten, und von dem unaufhörlichen Verlangen, uns nahe zu sein. Er wollte mich durchaus im Schlosse Colombier bei sich haben und bestürmte mich lange, die Wohnung, die ich dort einnahm, für immer zu behalten. Ich sagte ihm endlich, daß ich bei mir unabhängiger wäre, und daß es mir lieber wäre, wenn ich mein Leben lang zu ihm käme. Er billigte diese Offenherzigkeit und sprach mit mir nicht mehr davon. O guter Mylord! O mein würdiger Vater! Ach, die Barbaren! Welchen Schlag haben sie mir beigebracht, als sie dich mir entfremdeten! Aber nein, nein, großer Mann, du bist und wirst mir immer derselbe sein, wie ich immer derselbe bin. Sie haben dich hintergangen, aber sie haben dich nicht geändert.
Mylord Marschall ist nicht ohne Fehler; er ist ein Weiser, aber er ist ein Mensch. Bei dem durchdringendsten Geiste, bei dem feinsten Tacte, den man haben kann, bei der tiefsten Menschenkenntnis läßt er sich bisweilen täuschen und giebt dann nie wieder seine Ansicht auf. Er hat seltsame Launen und in seiner Sinnesart etwas überaus Wunderliches und Absonderliches. Er scheint die Leute, die er täglich steht, zu vergessen und erinnert sich ihrer in dem Augenblick, da sie es am wenigsten denken: seine Aufmerksamkeiten erscheinen dann unzeitig; seine Geschenke geschehen aus Laune und richten sich nicht immer nach den üblichen Rücksichten. Er schenkt oder schickt ohne Unterschied, und augenblicklich was ihm gerade einfällt, es mag von hohem Werthe oder ganz werthlos sein. Ein junger Genfer, der in
Weitere Kostenlose Bücher