Rousseau's Bekenntnisse
diese Vesper in der Kirche der Bettelmönche, und wir waren nicht die einzigen. Die Kirche war stets voll von Musikfreunden, sogar die Opernsänger kamen, um ihren Kunstsinn nach diesen vorzüglichen Mustern zu bilden. Nur diese verwünschten Gitter, die blos Töne hindurchließen und mir die Engel von Schönheit, die sie verdientermaßen zierte, verbargen, waren mir unangenehm. Ich sprach von nichts anderem. Als ich eines Tages bei Herrn Le Blond davon redete, sagte er zu mir: »Wenn Sie so neugierig sind, diese kleinen Mädchen zu sehen, so ist es leicht, Sie zu befriedigen. Ich bin einer der Verwalter des Hauses; ich will Ihnen Gelegenheit geben, mit ihnen das Vesperbrot zu essen.« Ich ließ ihm keine Ruhe, bis er Wort gehalten hatte. Beim Eintritt in den Saal, der diese Schönheiten umschloß, nach deren Anblick ich so begierig war, fühlte ich einen Liebesschauer, wie ich ihn nie empfunden hatte. Herr Le Blond stellte mir eine dieser berühmten Sängerinnen nach der andern vor, deren Stimme und Namen mir bisher allein bekannt waren. »Kommen Sie, Sophie ...« Sie war abschreckend häßlich. »Kommen Sie, Cattina ...« Sie war einäugig. »Kommen Sie, Bettina ...« Die Blattern hatten sie entstellt. Fast nicht eine einzige war ohne ein recht hervortretendes Gebrechen. Der Schelm lachte über meine sichtliche Befremdung. Zwei oder drei kamen mir indessen leidlich vor, es waren aber nur Choristinnen. Ich war trostlos. Während des Vesperbrotes neckte man sie; sie wurden ausgelassen. Die Häßlichkeit schloß jedoch Anmuth nicht aus; ich nahm sie an ihnen wahr. Ich sagte mir: man singt so nicht ohne Seele; sie ist ihnen zu Theil geworden. Kurz, meine Anschauungsweise schlug so zu ihrem Vortheile um, daß ich beim Scheiden fast in alle diese Fratzen verliebt war. Ich wagte kaum zu ihren Vespern zurückzukehren. Ich wußte mich jedoch zu beruhigen. Ich fand ihre Gesänge noch immer hinreißend, und ihre Stimmen verliehen ihren Gesichtern einen so lieblichen Reiz, daß ich sie, meinen Augen zum Trotz, so lange sie sangen, beharrlich schön fand.
Die Musik kostet in Italien so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, selbst zu musiciren, falls man nicht ein großer Musikfreund ist. Ich miethete ein Klavier und für einen kleinen Thaler verschaffte ich mir vier oder fünf Mitspieler, mit denen ich einmal in der Woche die Stücke einübte, die mir in der Oper am meisten gefallen hatten. Auch ließ ich einige Symphonien aus meinen »galanten Musen« spielen. Ob sie nun wirklich gefielen oder man mir nur schmeicheln wollte, genug, der Balletmeister von Chrysostomo ließ mich um zwei derselben bitten, welche ich dann die Freude hatte, von diesem bewunderungswürdigen Orchester vorgetragen zu hören. Den Tanz hatte ein niedliches und ungemein liebenswürdiges Mädchen, die kleine Bettina, übernommen, die von einem unserer Freunde, einem Spanier Namens Fagoaga, unterhalten wurde, und bei der wir ziemlich häufig den Abend zubrachten.
Da ich jedoch gerade auf die Mädchen zu sprechen gekommen bin, so ist Venedig durchaus nicht die Stadt, wo man sie flieht. Hast du denn, könnte man mich fragen, in diesem Punkte gar nichts zu bekennen? Ei doch, etwas habe ich wirklich mitzutheilen und ich werde mich bei diesem Bekenntnisse derselben Offenheit befleißigen, die ich bei allen anderen bewiesen habe.
Oeffentliche Dirnen haben mir stets Ekel erregt, und in Venedig, wo mir meiner Stellung wegen der Zutritt zu den meisten Häusern der Republik versagt war, hätte ich mich doch nur auf solche angewiesen gesehen. Die Töchter des Herrn Le Blond waren sehr liebenswürdig, lebten aber sehr zurückgezogen, und ich achtete ihre Eltern zu sehr, um auch nur mit einem Gedanken nach ihnen begehrlich zu sein.
Ein junges Fräulein, die Tochter des königlich preußischen Agenten von Cataneo, wäre eher im Stande gewesen, mir Neigung einzuflößen; aber Carrio liebte sie so aufrichtig, daß er selbst an Heirath dachte. Er war vermögend, und ich besaß nichts; er hatte hundert Louisd'or Gehalt, ich nur hundert Pistolen und außerdem, daß ich einem Freunde nicht ins Gehege kommen wollte, wußte ich, daß, wenn man auf Eroberungen ausgehen will, man überall und namentlich in Venedig mit einer reich gefüllten Börse versehen sein muß. Ich hatte die unselige Gewohnheit, meine Begierden zu befriedigen, nicht verloren, und zu beschäftigt, um die, welche das Klima einflößt, lebhaft zu fühlen, lebte ich fast ein Jahr in dieser Stadt so
Weitere Kostenlose Bücher