Rousseau's Bekenntnisse
Manuscripten, die mir der Graf von Saint-Pierre gegeben hatte, glaubte ich Schätze zu besitzen. Als ich sie untersuchte, überzeugte ich mich, daß sie fast nur aus der Sammlung der gedruckten Werke seines Oheims bestanden, mit Anmerkungen und Verbesserungen von seiner eignen Hand versehen, nebst einigen anderen, bisher nicht veröffentlichten, kleinen Schriften. Durch seine moralischen Schriften wurde ich in dem Gedanken bestärkt, den einige seiner Briefe, die mir Frau von Créqui gezeigt, in mir hervorgerufen hatten, daß er weit mehr Geist besaß, als ich geglaubt; aber die eingehende Prüfung seiner politischen Schriften brachte nur oberflächliche Anschauungen, und zwar nützliche, aber wegen der fixen Idee des Verfassers, daß sich die Menschen mehr durch ihre Einsicht als durch ihre Leidenschaften leiten ließen, unausführbare Pläne zu Tage. Die hohe Ansicht, die er über die modernen Wissenschaften hegte, hatte ihn zur Annahme der falschen Theorie von der sich vervollkommnenden Vernunft bestimmt, von welcher alle Einrichtungen, die er vorschlug und alle seine politischen Trugschlüsse ausgingen. Dieser außerordentliche Mann, die Ehre seines Jahrhunderts und seines Geschlechts, und der einzige vielleicht, seitdem es Menschen giebt, der für nichts als für die Vernunft Leidenschaft hatte, verfiel trotzdem in allen seinen Systemen von einem Irrthum in den andern, weil er darauf ausging, die Menschen ihm selber gleich zu machen, statt sie zu nehmen, wie sie sind und stets sein werden. Er hat nur für eingebildete Wesen gearbeitet, während er sich einbildete, für seine Zeitgenossen zu arbeiten.
Nachdem ich diese Einsicht gewonnen, war ich über die Form, die ich meinem Werke geben sollte, in einiger Verlegenheit. Die Visionen des Verfassers unbeanstandet zu lassen hieß nichts Nützliches leisten; sie strenge widerlegen hieß unehrlich handeln, weil mir die Ueberlassung seiner Manuscripte, die ich angenommen und sogar erbeten hatte, die Verpflichtung auferlegte, gegen ihren Verfasser in ihn ehrender Weise aufzutreten. Ich kam endlich zu dem Entschlusse, der mir der anständigste, vernünftigste und nützlichste schien, dem nämlich, die Gedanken des Verfassers und die meinigen getrennt zu geben und zu dem Zwecke auf seine Anschauungen einzugehen, sie zu erläutern, sie weiter auszuführen und alle Mittel anzuwenden, um sie in ihrem vollen Werthe zu zeigen.
Mein Werk sollte demnach aus zwei vollständig getrennten Theilen bestehen, aus einem, der dazu bestimmt war, in der angegebenen Weise die verschiedenen Entwürfe des Verfassers zu entwickeln, während ich in dem andern, der erst nach hervorgebrachter Wirkung des ersten erscheinen sollte, mein Urtheil über diese nämlichen Entwürfe ausgesprochen hätte, was sie mitunter, wie ich gestehe, dem Schicksale des Sonetts in dem »Misanthrop« würde haben aussetzen können. Dem ganzen Werke sollte eine Lebensbeschreibung des Verfassers vorangehen, für die ich ziemlich gutes Material gesammelt hatte, und ich schmeichelte mir, es bei der Bearbeitung nicht zu verderben. Ich hatte den Abbé von Saint-Pierre in seinem Alter öfter gesehen, und die Verehrung, die ich seinem Andenken zollte, gereichte mir zur Bürgschaft, daß der Graf mit der Art, wie ich seinen Verwandten behandelt, im Ganzen nicht unzufrieden sein würde.
Zuerst verfaßte ich einen Auszug aus seinem Werke »der ewige Frieden«, der bedeutendsten und am meisten durchgearbeiteten von allen Schriften, die jene Sammlung bildeten; und ehe ich mich meinen Betrachtungen über dieses Werk überließ, hatte ich den Muth, schlechterdings alles zu lesen, was der Abbé über diesen Gegenstand geschrieben hatte, ohne mich durch seine Längen und Wiederholungen je abschrecken zu lassen. Dem Publikum liegt dieser Auszug vor, so habe ich nichts darüber zu sagen. Das Urtheil dagegen, das ich hinzugefügt, ist nie gedruckt worden, und ich weiß nicht, ob es je gedruckt werden wird; aber es wurde gleichzeitig mit dem Auszuge geschrieben. Darauf ging ich zu der »Polysynodie oder die Notwendigkeit mehrerer Rathsversammlungen« über, einem unter dem Regenten zur Verteidigung der von ihm eingesetzten Verwaltung geschriebenen Werke. Einige darin enthaltene Anspielungen auf die vorhergehende Verwaltung, die den Zorn der Herzogin von Maine und des Cardinals von Polignac erregten, veranlaßten die Ausstoßung des Abbé von Saint-Pierre aus der französischen Akademie. Ich vollendete diese Arbeit wie die erstere,
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