Ruby und Niall
Er sah aus wie ein Schneemann aus der Wandermonsterausstellung, und als das Mädchen zufrieden einen Schritt zurücktrat, sagte der Junge: "Er hat keine Arme."
"Ab ins Haus mit euch", rief Ruby, "wir trinken eine heiße Schokolade."
Als Mrs. Juárez zurückkam, lagen die beiden auf der Couch und schliefen.
"Du hast so ein glückliches Händchen für Kinder", sagte sie, "du solltest dir einen Mann zum Heiraten suchen und selber welche bekommen."
"Irgendwann mal", sagte Ruby. Sie hatte einen Klos im Hals.
Sie tranken einen Kaffee zusammen, unterhielten sich über Kinderbekleidung und den nie endenden Winter, über Weihnachten und Familienfeste. Letztes Jahr hatten sie zusammen gefeiert und den Kindern einen schönen Tag gemacht. Mrs. Juárez hatte nicht viel Geld für Geschenke, aber die Kleinigkeiten waren schön verpackt und liebevoll überreicht worden und die Kinder waren den ganzen Tag mit leuchtenden Augen herumgelaufen.
"Du hattest eine kurze Nacht", sagte Mrs. Juárez und Ruby seufzte: "Wer braucht schon Schlaf."
Als Niall aufwachte, war sein Gipsbein von der Couch gerutscht und das ganze Bein war eingeschlafen. Er wühlte sich aus der Decke, setzte sich auf und erschreckte sich vor dem Eisbärenfell, was ihm gegenüber an der Tür hing. Sein Bein begann fürchterlich zu kribbeln, als das Blut wieder zu schießen begann. Die Jungs der WG waren ausgeflogen, er war allein. In der Küche türmte sich das benutzte Geschirr in der Spüle und auf dem Tisch, zusammen mit den halb vollen Weingläsern und den Essensresten von Lukes Mitternachtsimbiss. Weil Niall nichts anderes zu tun hatte, begann er aufzuräumen. Er hatte keine Ahnung, wo die WG Bewohner an einem Sonntagvormittag hingegangen sein könnten, aber es gefiel ihm in dem großen Haus. Es erinnerte ihn ein wenig an zu Hause.
Cotton war der Erste, der wieder auftauchte und in der sauberen aufgeräumten Küche enttäuscht stehen blieb.
"Verdammt, ich wollte die Reste austrinken", sagte er. Niall saß wieder auf dem Fensterbrett, rauchte und sagte: "Kein Problem, ich hab alles in eine Flasche zurückgegossen."
Er erfuhr, dass Ethan sonntags auswärts frühstückte, der Mexikaner und Luke zwar sonst nichts gemeinsam hatten, aber den Sonntag nutzten, um im Friseursalon für Ordnung zu sorgen.
"Du kannst ruhig länger bleiben", sagte Cotton, "wenn's nach mir geht."
"Ich überleg's mir."
"Du hast doch nichts gegen Schwule, oder?"
Niall sah ihn über den Zigarettenrauch hinweg an und überlegte einen Augenblick zu lange. Bei Cotton zeigte sich ein leichtes Unbehagen, als habe er eine falsche Frage gestellt und Niall dachte: Gosh, gleich heult er.
"Ich hab nichts gegen
dich
", sagte er, "aber ich bin sehr streng erzogen worden." Er überlegte, wie er sich erklären sollte, ohne zu viel zu verraten und ohne Cotton noch mehr zu verletzen. "Bei uns ist es schon gewagt, dabei das Licht anzumachen. Ich bin lernfähig, aber manche Dinge schüttelt man nicht so einfach ab. Du wirst das wissen, du lebst in einer Kleinstadt."
Cotton kämpfte deutlich mit sich, lächelte mühsam und machte eine so tuntenhafte Geste, dass Niall laut herauslachte.
"Du bist ein Arschloch", sagte Cotton.
Er mochte in Nialls Alter sein, aber er wirkte wie ein kleiner Junge, der mit einer selbst gebastelten Angelrute zum Fischteich lief. Er schnappte sich die einsame Flasche Wein und verschwand in sein Zimmer.
Ich muss aufpassen
, dachte Niall,
seit ich dieses Fell nicht mehr trage, gebe ich zu viel von mir Preis. Ich sollte direkt nach Boston verschwinden
.
Er zog sich eine der herumliegenden Jacken an und führte seine Krücke spazieren. Die Gegend war heruntergekommen, aber der Schnee überdeckte das meiste. Er sah einige rauchende Eckensteher, die ihn aufmerksam beobachteten, aber nicht angingen. Bei ihm gab es außer der Krücke nichts zu holen. Er hinkte bis in das Zentrum, fand den Busbahnhof wieder und ging in den Supermarkt. Dort warf er einen Blick auf die Überschriften der Tageszeitungen, blieb vor dem Schwarzen Brett stehen. Als er eine bekannte Stimme hörte, drehte er sich herum und entdeckte Ruby mit zwei kleinen Kindern, wie sie Haushaltshandschuhe kauften. Sie bemerkte ihn nicht und er beließ es dabei, sie über die Verkaufsregale hinweg zu beobachten. Er wollte sich nicht aufdrängen und sie und sich selbst in eine peinliche Situation hineinmanövrieren. Am Schwarzen Brett hingen die üblichen Kleinanzeigen. Junge Hunde zu verkaufen. Ausgediente Möbel abzugeben. Suche alte
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