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Ruchlos

Ruchlos

Titel: Ruchlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Baum
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Aber wie lange war Besuchszeit?
    Und Dale wollte ich anrufen und fragen, was er über Ronnie herausgefunden hatte. Gut, dass er sich um diesen Unsymp kümmerte.
    Ich würde für ein paar Minuten die Augen schließen und dann weitersehen.

    Ich erwachte Stunden später, weil mir kalt war. Diese Schwangerschaft stellte wirklich mein Leben auf den Kopf. Ich ging in die Küche und holte mir ein Glas Traubensaft, wickelte mich in eine Decke und nahm mir die Texte aus dem Archiv vor.
    Überholt waren Heinz Wachowiaks Notizen jedenfalls nicht. Zwar stammten die meisten Artikel über den ›Sturmtrupp‹ aus den Jahren vor 2000, es gab jedoch auch einen Text, der erst vor einem Monat erschienen war – und zwar in der ›Zeit‹. Er war sehr ausführlich, und der Kollege schien sich sicher, dass diese Hooligangruppe in den vergangenen Jahren eher noch brutaler geworden war. Er listete diverse Straftaten auf, darunter immer wieder Angriffe auf die Presse.
    Nun gab es ein solches Opfer mehr, dachte ich. Ich würde morgen Kontakt mit dem Redakteur aufnehmen. Keins der Bilder, die seinen Text illustrierten, war eine solche Nahaufnahme, wie Andy sie gemacht hatte, außerdem konnte ich auf dem Ausdruck nicht viel erkennen. Ich würde ihm unsere Fotos schicken und fragen, ob er vielleicht den Typ, der auf Andreas losgegangen war, bei seinen Recherchen gesehen hatte. Er war sehr eng mit den Hooligans in Berührung gekommen.
    Dazu brauchte ich allerdings wieder ein Telefon und einen Computer, von dem aus ich Mails verschicken konnte. Ich seufzte, stand auf und holte mein Handy aus dem Schrank, steckte es gemeinsam mit den gesammelten Unterlagen und dem USB-Stick in meine Tasche. Dann stellte ich den Wecker auf 7.00 Uhr und ging zu Bett.
    Alles in Ordnung. Wunderbar! »What a beautiful world«, trällerte ich vor mich hin, während ich über die Carolabrücke in die Altstadt radelte. Nun war tatsächlich meine Frauenärztin die Erste gewesen, die mir gratuliert hatte. Verrückt.
    Sechste Woche. Das hatte ich auch schon ausgerechnet. Das Kind würde also Mitte Mai zur Welt kommen. Ein Stier. Mein Großvater war Stier gewesen. Ein starker Mensch mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
    Am liebsten wäre ich geradewegs in die Friedrichstadt zu Andy gefahren, um es ihm endlich zu sagen, jetzt, wo es sozusagen doppelt belegt war. Aber ich war bereits spät dran für den Arbeitsbeginn im Archiv. Gut, dann würde ich am Nachmittag eine kleine Flasche Sekt kaufen, bevor ich ihn besuchte. Ein Schlückchen durfte ich mir wohl auch gönnen.
    Schnell fuhr ich die noch leere Prager Straße hinunter. Als der Plattenbau der Zeitung sichtbar wurde, traute ich meinen Augen nicht. Schon von Weitem sah ich, dass die Erdgeschossfront des Gebäudes großflächig beschmiert war. Riesige schwarze Zeichen zogen sich über das Fenster der Geschäftsstelle und darüber hinaus bis auf die schlichte Betonwand.
    Hakenkreuze. Das waren Hakenkreuze. Und zwei Worte: ›Wessischweine verreckt‹ – die beiden ›s‹ in ›Wessi‹ wie die Runen der SS geschrieben. Mein Herzschlag schien auszusetzen. Ich zweifelte keine Sekunde, dass Andy und ich gemeint waren. Aber wie konnten sie wissen.? Ich hatte darauf geachtet, nirgendwo unsere Namen zu erwähnen.
    An dem Fenster mühte der Hausmeister sich mit einem Schrubber, den Dreck herunterzuwaschen.
    »Stopp!«, rief ich. »Das muss aufgenommen werden. Wir müssen Anzeige erstatten!«
    Der gutmütige Mann drehte sich zu mir um. »Längst erledigt. Die Polizei ist noch oben. Nu müssen wir aber die Bescherung beseitigen, oder?«
    »Natürlich. Wo oben? In der Chefredaktion? Oder bei der Geschäftsleitung?«
    Die Anwort war ein Achselzucken. Ich schloss mein Fahrrad ab und lief die Treppen hoch in den zweiten Stock, stand mit einem Anklopfen schon im Vorzimmer von Chefredakteur Hartmut Müller, erfuhr von der Sekretärin, dass ›alle oben sind‹ und machte kehrt. Also die Geschäftsleitung. Dritter Stock. Hier hatte man versucht, dem schäbigen Plattenbauinnern etwas postmodernen Schick zu verleihen, wobei der Natursteinboden und die auffällig platzierten Bilder von gelobten Malern der Neuen Leipziger Schule in meinen Augen übertrieben wirkten. Ich war erst ein einziges Mal hier gewesen, als es um meine Festanstellung ging, und blieb kurz stehen, um mich zu orientieren und zu Atem zu kommen. Dann sah ich die angelehnte Tür zu einem der Konferenzräume und klopfte an.
    Detlef Seltmann, unser neuer

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