Ruchlos
»Da war die Gnade der Ostgeburt hilfreich. Den begeisterten Dynamo-Anhänger mit diffusen nationalistischen Tendenzen haben sie mir abgenommen.« Sein leises Lachen klang bitter. »Ich bin davon ausgegangen, dass ich das ohne Gefahr machen kann, weil ich danach wieder weit weg von dem Gesindel bin – natürlich haben die überall ihre Verbindungen, aber das Risiko bin ich eingegangen. Letzte Woche haben sie dann meine Schwester direkt vor ihrem Haus in Laubegast verprügelt. Und sie ist verheiratet und trägt den Namen ihres Mannes. Also überlegen Sie sich gut, was Sie unternehmen.«
Frustriert bedankte ich mich für das Gespräch und legte auf, öffnete abermals die Nahaufnahme des Schlägers und starrte sie an in der Hoffnung auf eine Eingebung.
Simone kam in die Redaktion, sie hatte morgens einen Termin mit einer Hochschulgruppe gehabt, sodass sie nicht in der Konferenz gewesen war. Erfreut begrüßte sie mich, kam an meinen Tisch, stockte:
»Was ist das für ein Foto?«
»Zeitung lesen gehört zu den ersten Pflichten bei einem Praktikum«, sagte ich.
Ohne zu antworten, nahm sie den Lokalteil von meinem Tisch und überflog den Artikel.
»Hast du noch mehr Bilder?«
Ich klickte Andreas’ Ausbeute durch, Simone schwieg. Als ich wieder bei dem Hauptschläger gelandet war, räusperte sie sich:
»Der dahinter, in der zweiten Reihe, das war einer von denen, die mich in der Bahn bedrängt haben.«
Ich schloss das Fenster, stand auf. »Dann lass uns mal zusammen zur Kripo gehen.«
Während wir nebeneinander quer durch die Altstadt liefen, sprachen wir nicht viel. Simone schien mit der Erinnerung an jenen Nachmittag beschäftigt, von dem sie mir nur einmal erzählt hatte. Schlimmer als die körperlichen Rempeleien und verbalen Verletzungen war für sie das Verhalten der anderen Fahrgäste gewesen, die allesamt so getan hatten, als wäre nichts geschehen. Selten hatte ich mich so für meine Mitbürger geschämt.
Endlich hatten wir das trutzige Gebäude in der Schießgasse erreicht. An der Pforte fragte ich nach den Beamten, die sich mit Rechtsextremisten beschäftigten, und erntete ratlose Blicke. Erst als mir der Name des einen wieder einfiel, wurde uns der Weg in den dritten Stock gewiesen. Dort trafen wir auf den frustriert wirkenden jüngeren Beamten, der uns mit einer Handbewegung einlud, Platz zu nehmen.
»Sie möchten vermutlich bestätigen, dass der Artikel ein Missverständnis war?« Herrn Clausnitzers Stimme klang resigniert.
»Was? Wieso? Nein, im Gegenteil: Frau Rendille hat auf den Fotos einen Mann erkannt, der sie vor etwa sechs Wochen angegriffen hat.«
»Ach ja? Gut, dann nehmen wir das doch mal auf.« Der Polizist, ein schlaksiger Kerl, rollte seinen Schreibtischstuhl ein Stück zur Seite, klickte auf der Tastatur herum. »Beginnen wir mit Ihrem Namen.«
Simone machte ihre persönlichen Angaben, Clausnitzer sah nicht auf, sondern gab die Daten ein.
»Warten Sie mal«, unterbrach ich die beiden, als ich es nicht mehr aushielt. »Was haben Sie gerade gemeint? Wer hat den Artikel als Missverständnis bezeichnet?«
Der Beamte hatte ein schmales Gesicht, dessen jugendliche Züge in Kontrast zu dem abgeklärten Lächeln standen. »Herr Rönn selbst. Er sagt aus, er habe zwar vor Ort die Dynamo-Fans fotografiert, aber sie hätten ihn nicht angegriffen. Die Blessuren habe er von einer Prügelei mit einem alten Kumpel.« Aufmerksam beobachtete er mich. »Die Schlussfolgerungen in dem Artikel seien –«, absichtsvoll brach er ab, überließ es mir, den Satz zu beenden.
»… ein Missverständnis.« Ich stand auf, bat Simone, Martin zu sagen, dass ich noch unterwegs sei, und ging hinaus.
Sobald ich vor dem Gebäude stand, begann ich zu rennen.
*
Natürlich: auf eigene Verantwortung entlassen. Warum war ich überhaupt noch hierhergerast? Herr Dr. Marx habe Herrn Rönn untersucht, sagte die Schwester. Er sei ganz zufrieden gewesen, normalerweise hätte man den Patienten jedoch zumindest noch den heutigen Tag auf Station behalten. Danach seien zwei Herren von der Polizei da gewesen, um mit Herrn Rönn zu sprechen, gar nicht lange habe das gedauert, dann sei der Herr Rönn schon zu ihnen ins Schwesternzimmer gekommen und habe darauf bestanden, nach Hause zu gehen. Das sei vor einer knappen Stunde gewesen.
Die Neugierde stand ihr ins Gesicht geschrieben, offenbar wollte sie etwas fragen, ich bedankte mich daher schnell und ging, stieg vor dem Gebäude in den Dienstwagen, den ich auf dem
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