Rückkehr nach Wedenbruck
dass es in dieser Klasse ein paar besonders schlitzohrige Typen gab, konnte sie nicht leugnen.
Otto und Kilian zum Beispiel, ein Gespann, das einem Bündel Feuerwerkskörper Marke Dauerbrenner glich: Ein Einfall entzündete den nächsten. Was den Umgang mit ihren Pferden betraf, nahm Bille die Schüler hart an die Kandare, da kuschten sogar die Möchtegern-Helden Otto und Kilian. Bille duldete weder Leichtsinn noch Launenhaftigkeit oder Schlamperei.
„Wenn es nach mir ginge“, sagte sie oft, „dann müsste im Grundgesetz unseres Staates nicht nur stehen ,Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sondern auch ,Die Würde des Tieres ist unantastbar’ - und das gilt besonders für die Pferde! Kein Mensch hat das Recht, ihnen absichtlich Schaden zuzufügen. Also denkt daran: Wer aus Mutwillen oder Gedankenlosigkeit einem Pferd Leid zufügt, der hat in Groß-Willmsdorf nichts zu suchen.“
Was Otto und Kilian und der Kreis ihrer bewundernden Anhänger außerhalb des Unterrichts anstellten, entzog sich allerdings Billes Kenntnis. Von solchen Untaten wie Papierfliegerschlachten im Klassenzimmer, Karikaturen der Lehrer an der Wandtafel, Knallfröschen in der Mädchentoilette, Rempeleien im Speisesaal und heimlichem Rauchen erfuhr sie nur gelegentlich über Dritte. Und da sie außerhalb ihrer Unterrichtsstunden meist im Tiedjenschen Turnierstall mit dem Training der Pferde beschäftigt war, hatte sie kaum Zeit darüber nachzudenken. Ohnehin war der Ärger meistens bereits verraucht, wenn man ihr von den neuesten Taten der Truppe um Otto und Kilian erzählte.
Einer allerdings hielt Augen und Ohren stets offen: Johnny der Indianer. Ihm schien es geraten, der übermütigen Bande hin und wieder einen Dämpfer aufzusetzen. Wenn Otto, Kilian und ihre Bewunderer laut durch den Schulstall tobten, Bürsten und nasse Schwämme beim Putzen als Wurfgeschosse benutzten oder mit dem Abspritzschlauch Wasserschlachten veranstalteten, gab es schon mal eine kräftige Standpauke. Sie endete meistens mit der Frage, ob sie sich überhaupt klar darüber wären, welch eine Ehre es sei, Schüler im Reiterinternat Groß-Willmsdorf zu sein und zu Nachfolgern des berühmten Hans Tiedjen ausgebildet zu werden.
Wenn solche Ermahnungen nichts nützten, sagte er auch mal mit durchdringendem Blick: „Warte nur, bis dir eines Tages von du weißt nicht woher ein Stallbesen ins Kreuz fliegt oder ein Heubündel auf deinem Kopf landet. Dann hast du Junker Erasmus in Zorn gebracht, und er wird dich verfolgen, bis du dir vor Angst und Entsetzen in die Hosen machst!“
Auf die erstaunte Frage, wer denn dieser Junker Erasmus sei, antwortete Johnny ernsthaft: „Na, das Stallgespenst! Es spukt hier seit über fünfhundert Jahren! Wusstet ihr das nicht? Stand sogar mal in der Zeitung. Dem Junker Erasmus hat damals im Mittelalter der Hof hier gehört. Leider hat er im Spiel seinen ganzen Besitz verloren und sich aus Kummer darüber aufgehängt. Genau hier, wo damals eine Scheune stand. Junker Erasmus war ein berühmter Reitersmann. Der liebte seine Pferde so sehr, dass er es vorzog, im Stall bei den Rössern zu schlafen statt in seinem ritterlichen Himmelbett. Und wehe, jemand tat einem seiner Pferde was zu Leide! Der musste um sein Leben fürchten!“
Natürlich glaubten die Schüler Johnny diese Geschichte nicht, auch wenn er sie auf die wissenschaftlich nachgewiesenen Spukfälle in England hinwies. Und doch beschlichen manch einen heimliche Zweifel, ob nicht etwas dran sei an dieser Legende. Merkwürdige Dinge gab es schließlich genug auf der Welt.
Auf jeden Fall eignete sich der spukende Geist des Junkers Erasmus ausgezeichnet, um anderen damit Angst einzujagen. Zum Beispiel der jungen Kochhilfe Lisa. Sie war ein etwas naives Mädchen, das seit einigen Wochen in der Schulküche arbeitete und sich leicht auf den Leim führen ließ. Dabei nahm sie selten etwas übel und lachte nur gutmütig, wenn sie merkte, dass sie mal wieder geneckt worden war. Wann immer Otto und Kilian Lisa begegneten, erzählten sie ihr die haarsträubendsten Geschichten über das Stallgespenst.
Wochen vergingen. Die Adventszeit war gekommen und tröstete mit ihrem Kerzenglanz und Tannenduft über die nebligen, trüben Tage hinweg, an denen es gar nicht mehr richtig hell zu werden schien.
Bille hatte ihren Geburtstag zum Bedauern aller in Berlin bei Simon verbracht, obwohl man natürlich Verständnis für diesen Wunsch hatte. Sie hatte aber versprochen, für die Freunde eine
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