Rücksichtslos
Institut mit räumlich und apparativ begrenzten Möglichkeiten bearbeitete er, gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Fathma Gonzales, kleinere Aufträge aus der Industrie. Nachdem sie sich eine Weile mit der Batterietechnik für Elektroautos beschäftigt hatten, nahmen sie in der jüngsten Vergangenheit Messungen und Berechnungen an Sensoren vor. Am Vortag war ein neuer Auftrag ins Haus geflattert. Was interessieren mich denn Sensoren in Kaffeemaschinen? Er fühlte sich maximal genervt. Das ist doch eigentlich genau das, was ich nie tun wollte!
Forschungen auf unbekannten Gebieten. Das interessierte ihn. Wehmütig dachte er an sein ehemaliges Labor bei Oberursel. Schnaubend verließ er das Büro und warf die Tür hinter sich zu. Er marschierte in Richtung Ausgangstür, blieb stehen, drehte um und lief in Fathmas Arbeitszimmer. Sie starrte ihn entgeistert an als er hereinstürmte.
„ Ist etwas passiert?“
„ Ich geh heim.“
„ Und?“ Ihre dunkelbraunen Augen waren noch immer weit aufgerissen. Schwarze lockige Haare umrahmten das Gesicht der Fünfundvierzigjährigen. Sie wartete auf eine Antwort.
„ Nichts. Es ist nichts passiert. Aber … “ Philipp seufzte, während er nach den richtigen Worten suchte. „ I rgendwie ist die Luft raus. All das hier geht mir fürchterlich auf die Nerven.“
Fathma musterte ihn mit einem scharfen Blick.
„ Geh heim, entspann dich und überlege, was du in Zukunft tun willst. Mir fällt schon seit einer Weile auf, dass du dich auf deine Arbeit nicht mehr richtig konzentrieren kannst. Wenn ich ehrlich bin, hast du es länger ohne deine speziellen Experimente ausgehalten, als ich gedacht habe.“ Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht blinzelte sie ihm zu. Philipp öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Fathma kam ihm zuvor.
„ Los. Geh. Ich komm schon allein zurecht. Und falls doch nicht, weiß ich ja, wo ich dich erreiche.“
Bedenken hatte er keine. Dafür war die studierte Informatikerin und Physikerin einfach zu gut. Also nickte er, schnappte sich seine Daunenjacke und schwang sich auf sein Fahrrad.
Zu Hause angekommen, warf er seine Jacke über einen Haken der Garderobe. Dass sie wieder herunterfiel, interessierte ihn heute nicht. Gedankenverloren schlenderte er durch sein Haus. Im Wohnzimmer schenkte er sich ein einen Scotch ein und ließ sich in einen Sessel sinken. Er ließ das Glas kreisen und beobachtete, wie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas drehte. Dann steckte er die Nase hinein und atmete tief ein. Der rauchige Geschmack blieb auf seinen Schleimhäuten haften. Ohne einen Schluck genommen zu haben stand er wieder auf. Was war denn nur mit ihm los? Physik war immer sein Leben gewesen. Aber wenn er ehrlich war, war es die Erforschung unbekannter Phänomene, die ihn immer gereizt hatte. Nachdenklich blieb er vor der Kommode aus hellem Eichenholz stehen. Nicht, dass er das Geld benötigte, das er mit seiner Arbeit im Institut verdiente. Seine Eltern hatten ihm ein so großes Vermögen vererbt, dass er sein Leben eigentlich nur zu genießen brauchte. Aber das war nicht sein Ding. Auf der faulen Haut zu liegen. Zum einen betrieb er das physika lische Institut weiter, um das Familienerbe zu bewahren. Der größere Antrieb war jedoch immer die Physik selbst gewesen. Bis vor Kurzem waren die Aufträge auch interessant und gleichzeitig so lukrativ gewesen, dass er davon seiner Mitarbei terin und auch sich selbst ein anständiges Gehalt bezahlen konnte. Jedoch waren die Anforderungen der Industrie immer umfangreicher geworden, die Aufträge immer anspruchsvoller und die Auftraggeber immer unverschämter. Er hatte keine Lust mehr, so weiterzu arbeiten.
Sein Blick fiel auf eine Einladung, die auf der Kommode lag, und zum ersten Mal, seit er diesen Morgen das Haus verlassen hatte, überzog ein Lächeln sein Gesicht.
*
Sonnenstrahlen schienen ihr ins Gesicht. Die ungewohnte Helligkeit brachte Kira dazu, blinzelnd die Augen zu öffnen. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Dann wurde sie mit einem Schlag von der Wirklichkeit überrollt und Tränen schossen ihr wieder in die Augen. In was für eine Scheiße war sie nur geraten?
Kira merkte nicht sofort, dass sie nicht mehr allein war. Doch irgendwann hörte sie, wie sich jemand leise räusperte. Sie schreckte hoch, um die blonde Frau, die ihr gegenüberstand, mit klopfendem Herzen anzustarren.
*
Karl st ierte gebannt auf den Bildschirm, als Kira erwachte. Mit unbewegter Miene
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