Rücksichtslos
als hätte sie einen Pfeil auf ihn abgeschossen. Er schaute sich hektisch um und atmete erleichtert aus, da er sich allein in dem Überwachungsraum befand. Als er das nächste Mal auf den Bildschirm sah, saß die kleine Rothaarige am Tisch und aß ihr Frühstück. Sie wirkte auf ihn wie ein kleiner Kobold. Noch nie hatte er eine Person kennengelernt, deren alleiniger Anblick ihn faszinierte und gleichzeitig beängstigte. Würde sie sich im nächsten Moment in Luft auflösen, so würde es ihn nicht verwundern. Deshalb riss er sich von ihr los und wandte sich den übrigen Bildschirmen zu, um die anderen Frauen zu beobachten. Doch sein Blick flackerte immer wieder für Sekundenbruchteile zu dem Kobold zurück. So, wie eine Motte, die das Licht suchte.
Die Brünette in Zimmer drei stand kurz davor, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Seitdem die Schwarzhaarige Anfang Dezember im Flur so laut herumgeschrien hatte, dass es selbst durch die schallgeschützten Türen zu hören gewesen war, waren die Schwangeren unruhiger geworden. Vor allem die Brünette war seither schrecklich nervös. Jedes Mal, wenn jemand eintrat, zuckte sie zusammen. Karl verzog den Mund. Genauso wie bei den anderen Weibern würde das Baby auf die Welt kommen. Seine Aufgabe war es, anschließend die Hülle der Frau zu entsorgen. Die wurde dann nicht mehr benötigt.
*
Philipp las die Einladung noch einmal durch. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht: Am heutigen Abend war am Campus Riedberg die Weihnachtsfeier der Dozenten. Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Das könnte die Lösung seines Problems werden. Seit drei Jahren hielt er einmal pro Woche eine Vorlesung an der physikalischen Universität, was ihm außerordentlichen Spaß machte. Eventuell könnte er sein Engagement erweitern. Denn nach wie vor reizten ihn Astronomie und Astrophysik am meisten.
Er nahm sein Mobiltelefon und wählte Katharinas Nummer. Der Anrufbeantworter ging an, und er hinterließ ihr eine Nachricht.
*
Thomas und Katharina stiegen in den Dienstwagen und fuhren vom Parkplatz der Kriminaldirektion auf der Eschersheimer Landstraße in Richtung Norden. Nach einer kurzen Diskussion mit den Mitgliedern der SOKO Schleuse hatten sie sich darauf geeinigt, dass Uwe Krüger eine Liste der Geburtskliniken, Geburtshäuser und Hebammen erstellen würde. Sobald er eine Adresse auf seiner Liste notiert hatte, sollte er diese umgehend an Katharina weitergeben, die die Einteilung der Ermittler vornahm. Alfred, der weiterhin in leitender Funktion den Mord an der Unbekannten aus der Müllverbrennung bearbeitete, war ebenfalls eingespannt worden. Da beide Frauen unmittelbar vor ihrem Tod entbunden hatten, würden sie in diesem Punkt in beiden Fällen ermitteln. Albert hatte zwar direkt nach dem damaligen Mord auch in dieser Richtung nachgeforscht, jedoch ohne Erfolg. Aktuell war er bereits mit Frank zum Bürger hospital unterwegs.
Katharina hatte derzeit die Namen und Anschriften von fünf Hebammen auf ihrem Zettel stehen. Alle arbeiteten im Nordend-Ost. Ihre Nase lief und sie schnäuzte kräftig in ein Taschentuch. In den letzten Stunden war ihr Schnupfen immer unerträglicher geworden.
„ Ich denke nicht, dass wir es heute noch zu allen fünf schaffen“, sagte sie schniefend zu ihrem Partner, der das Auto gerade in zweiter Reihe parkte. Es war bereits nach zwei Uhr.
„ Mal sehen.“ Thomas stieg aus.
Katharina lief bereits mit forschen Schritten in Richtung Haustür und läutete. Nach drei Versuchen gab sie auf. „ Das fängt ja gut an“, murmelte sie, zog die Nase wieder hoch und schrieb eine Notiz auf den Zettel.
Thomas saß schon wieder im Auto und startete. Zehn Minuten später standen sie vor dem nächsten Haus. Die Fahrt hatten sie schweigend hinter sich gebracht. Katharinas Finger hatte sich kaum von der Klingel gelöst, als auch schon die Tür geöffnet wurde. Die Miene der schlanken mittelalten Frau nahm einen freundlichen Ausdruck an, als sie die beiden Kommissare erblickte.
„ Frau Beauchamps?“, fragte Katharina.
„ Oui. Kommen Sie erein, s‘ils vous plait.“
Ihre Stimme klang melodiös, mit schwachem französischem Akzent. Bevor Katharina etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und schritt vor ihnen her. Ihre hüftlangen, glatten hellgrauen Haare wehten beinahe wie ein Schleier hinter ihr her. Sie wurden in einen gemütlichen Raum geführt, aufgefordert die Jacken auszuziehen und in zwei Sesseln Platz zu nehmen. Die Dame des
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