Rügensommer
Erinnerung, aber so recht wusste sie nicht mehr, ob sie viel oder wenig getanzt, mit wem sie geredet hatte. Sie wusste nur, dass es tatsächlich ein guter Abend gewesen war. Trotz des ausgewachsenen Katers, den sie mit sich herumschleppte, fühlte sie sich irgendwie beschwingt. Nur dass dieses Gefühl sich noch nicht völlig durchsetzen konnte.
»Eng umschlungen, wie ich ergänzen möchte.« Natty lächelte und sah verdächtig zufrieden aus.
»Du willst mich doch veralbern. Das ist böse. In meinem Zustand kann ich mich nicht wehren«, jammerte Deike. IhreSchwester strahlte noch immer hingerissen. Sie kannte Nattys Gesichtsausdruck, wenn die sie auf den Arm nahm. Dieser hier war anders. Das konnte nur eins bedeuten.
»Na servus!«, sagte sie stöhnend.
Natty warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
Sie legten einen Strandtag ein. Ungeachtet von Deikes Protest liefen sie zu Fuß zur Prorer Wiek. Das sei genau richtig für ihren Kreislauf, hatte Natty sehr entschieden mitgeteilt. Widerspruch war zwecklos. Bockig wie ein kleines Kind lief Deike hinter ihrer Schwester her. Alle paar Minuten nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche. Meine Güte, hatte sie einen Durst!
Am Bodden entlang konnten sie den Wanderweg nehmen, dann mussten sie sich parallel zur Bundesstraße durch den Wald schlagen. Sie hielten sich rechts, um nicht an dem unfassbar hässlichen Koloss von Prora zu landen. Der gigantische Bau, der Teil eines KdF-Seebades hatte sein sollen, war nicht gerade das, was ihnen an diesem Tag Kraft oder Freude hätte geben können. Sie konnten ihn an einem anderen Tag ansteuern, wenn ihnen der Sinn nach Besichtigung und Geschichte stand. Jetzt wollten sie nur faul auf ihren Handtüchern liegen und in die Sonne blinzeln.
»Ich wusste gar nicht, dass es hier so einen tollen Strand gibt«, rief Natty aus, als sie den Abschnitt zwischen dem Koloss und Binz erreicht hatten. »Der ist ja total breit! Und so feiner Sand …« Sie konnte sich gar nicht sattsehen. »Fast wie in der Karibik.«
»Schöner. Oder hast du in der Karibik schon mal so tolle Strandkörbe gesehen?« Deike stellte fest, dass der Spaziergang ihr wirklich gutgetan hatte. Und sie war in diesem Moment irgendwie stolz auf »ihre« Insel.
»Du hast recht. Rügen ist schöner als die Karibik. Und schöner als Ibiza oder Mallorca.« Sie warf ihrer Schwester einen vielsagenden Blick zu.
Sie zogen ihre Schuhe aus und gingen ein paar Schritte näher an die Wasserlinie heran. Der Sand fühlte sich herrlich warm unter den Füßen an. Es war fast völlig windstill, ein Zustand, den Deike noch nicht erlebt hatte, seit sie hier lebte. Die Ostsee lag wie ein Spiegel da. Einige Mutige waren schon im Wasser, obwohl das bestimmt noch ziemlich kalt war. Vor allem Kinder tummelten sich weit vorne, wo es ganz flach war, schaufelten den nassen Sand in kleine Eimer und brachten ihn dann den Eltern, die daraus ganze Festungen errichteten. Nur wenige der blau-weiß ausgeschlagenen Strandkörbe waren besetzt. Die meisten hatten es sich auf ihren Handtüchern bequem gemacht. So machten es auch Deike und Natty. Deike legte sich auf den Rücken, den Oberkörper auf die Ellenbogen gestützt, so dass sie am Horizont die Fähren sehen konnte, die aus Schweden, Litauen oder Russland nach Sassnitz kamen. Sie grub sich eine Mulde, indem sie ihren Po ein paar Mal hin- und herschob, und seufzte schließlich zufrieden.
»Erinnerst du dich noch an Christian?«, brach Natty nach einer Weile das Schweigen.
»Das ist ja eine Frage! Natürlich erinnere ich mich an ihn. Warum willst du das wissen?«
»Ich habe ihn neulich getroffen. Stell dir vor, er war mit seiner Frau und seinem Sohn in der Klinik.«
»Christian hat ein Kind?«
»Drei. Er hat mir erzählt, dass er drei Kinder hat. Wer hätte das gedacht?«
Ja, wer hätte das gedacht? Christian, der Mädchenheld aus Nattys Parallelklasse, tauchte nach Jahren der Versenkungwieder vor Deikes innerem Auge auf. Mann, war sie verknallt in ihn gewesen. Wie so ziemlich alle Mädchen aus ihrer Klasse. Und er war auch an ihr interessiert gewesen, das hatte sie sich bestimmt nicht nur eingebildet. Manchmal hatte er auf dem Pausenhof mit ihr ein Schwätzchen gehalten. Ihr fielen die neidischen Blicke der anderen Mädels und ihre bissigen Kommentare ein. Deike hatte das sehr genossen. Und dann, eines Tages, kam Natty daher, als sie und Christian gerade besonders nett plauderten. Sie erinnerte sich noch ganz genau: Natty biss
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