Rügensommer
sein.« Deike setzte sich wieder und stocherte lustlos in ihren gebratenen Nudeln mit Hühnchen herum.
»Wusstest du, dass es auf Rügen einen Ort mit dem Namen Schabernack gibt? Der liegt ganz nah bei Dumsevitz.«
»Ich wohne in Streu. Was soll ich da wohl noch komisch finden?« Deike schob ihren Teller von sich und seufzte tief. »Mir ist nicht nach Schabernack zumute, ich mache mir wirklich Sorgen um Hannes. Drüben ist schon wieder alles dunkel.«
»So, so, du machst dir also Sorgen. Ich dachte, du findest ihn komisch«, neckte Natty.
»Darum geht es doch gar nicht. Erstens war er komisch, bis du gekommen bist, und zweitens habe ich eben auch mit komischenVögeln Mitleid.« Sie war lauter geworden, als sie beabsichtigt hatte.
»Ist ja schon gut.«
»Entschuldigung«, murmelte sie kleinlaut.
»Ich verstehe dich ja. Ich habe heute auch ein paar Mal an den Anruf und den plötzlichen Aufbruch denken müssen.« Sie legte ihrer Schwester beruhigend die Hand auf den Arm. In der Ferne war ein erstes Grollen zu hören. »Aber Hannes ist ein großer Junge. Der wird mit seinen Problemen schon fertig. Und wenn er Hilfe braucht, wird er sich melden.«
»Das glaube ich kaum.« Deike schüttelte vehement den Kopf. »Männer bitten nicht um Hilfe. Und der schon gar nicht, glaube ich.« Sie brütete vor sich hin.
»Wer weiß, was da los ist? Womöglich hat er eine große Schwester, die ihm androht, zu ihm auf die Insel zu ziehen.« Es lag auf der Hand, dass Natty sie aufmuntern wollte. Ihre Augen blitzten voller Tatendrang.
»Ich finde das nicht lustig, Natty.«
»Also ganz ernst: Ich war heute unter anderem in Wiek und habe mir eine Klinik angesehen.«
Deike sah sie misstrauisch an und runzelte die Stirn.
»Nur von außen natürlich. Ich bin nicht reingegangen.« Sie blickte auf ihre ordentlich manikürten Hände. »Wahrschein lich ist es verrückt, aber der Gedanke, hier zu leben, lässt mich einfach nicht mehr los.«
»Was soll daran verrückt sein? Guck mich an, ich lebe auch hier.«
»Für ein Jahr, falls du deine Meinung nicht änderst. Außerdem bist du doch verrückt.« Sie griente Deike liebevoll an.
»Danke vielmals! Ganz ehrlich, ich fände es toll, wenn du hierherziehen würdest. Ob ich dann trotzdem in einem Jahroder später nach Ibiza gehe, muss ich jetzt noch nicht entscheiden.«
»Ich habe mal gelesen, dass Aussagen meistens nicht stimmen, die mit
ganz ehrlich
oder
ehrlich gesagt
anfangen.« Natty sah ihr direkt in die Augen. »Willst du wirklich, dass ich in deiner Nähe wohne? Ich meine, wir hatten auch schon ziemlich viel Krach miteinander. Du erinnerst dich?«
Deike erinnerte sich nur zu gut. Dass es zum Streit kam, war wohl kaum verwunderlich, wenn eine von zwei Schwestern immer die beliebte war. Christian war nicht das einzige männliche Wesen, an dem Deike Interesse, das aber leider nur Augen für Natty gehabt hatte. Das war längst nicht alles: Natty wusste schon als kleines Mädchen, was sie beruflich machen wollte, Deike konnte sich nicht entscheiden. Natty war gut in der Schule, Deike schlug sich so durch. Natty konnte die Eltern um den Finger wickeln und bekam, was sie wollte, Deike dagegen lief mit dem Kopf gegen die Wand, war unbequem und setzte eher selten ihre Wünsche durch. Wenn sie sich selbst gegenüber ganz aufrichtig war, hatte sie Natty mit jungen Jahren verlassen müssen, um sich endlich von deren Schatten zu befreien.
Ein Blitz flammte über den inzwischen tiefschwarzen Himmel. Deike sah für den Bruchteil einer Sekunde das grell beleuchtete Gesicht ihrer Schwester, das gleich wieder in dem gespenstischen Zwielicht des Wohnzimmers verschwand. Schon krachte ein Donner über sie herein und ließ sie zusammenfahren. Das Wetter da draußen passte hervorragend zur Stimmung im Haus.
»Also?« Natty hatte sie nicht aus den Augen gelassen und wartete noch immer auf eine Antwort.
»Alle Geschwister streiten doch mal, das ist ganz normal.« Deike sprach leise und schämte sich vor sich selbst, dass sie nichtehrlich war. Andererseits musste sie doch keine Kindheitsaufarbeitung mit ihrer Schwester praktizieren, wenn sie wirklich wollte, dass Natty nach Rügen kam. Und das wollte sie aus ganzem Herzen. »Vor allem in dem Alter. Wir waren Kinder.«
»Noch schlimmer: Wir waren Teenager!«
Deike nickte. »Das ist allerdings schlimmer. Wir waren manchmal unausstehlich, glaube ich.«
Beide hingen eine Weile ihren Gedanken nach. Die Blitze zuckten in immer kürzeren Abständen über
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