Rügensommer
den Himmel, der Donner ertönte fast im selben Augenblick.
»Hatte ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich ganz dringend demnächst nach Wiek muss?«, fragte Deike betont beiläufig.
»Nein, das hattest du noch nicht erwähnt. Ach, was willst du denn da?« Natty spielte das Spielchen mit.
»Och, nur mal gucken. Wiek soll ja eines der schönsten Dörfer der Insel sein, hast du das gewusst? Sogar der olle Fritz Reuter hat darüber mal etwas geschrieben, wenn ich mich nicht irre.«
»Du hast deine Hausaufgaben ordentlich gemacht, Schwesterchen. Na, wenn Fritz Reuter schon etwas über Wiek zu sagen hatte, dann sollten wir da unbedingt zusammen hinfahren.«
Nachdem das Gewitter sich verzogen hatte, setzte Regen ein, der die Luft reinigte. Deike hörte ihn hart auf die Terrasse trommeln, als sie in ihrem Bett lag. Allmählich wurde aus dem lauten Prasseln ein gleichmäßiges Rauschen, begleitet von dem hellen Perlen, das erklang, wenn einzelne Wassertropfen, an der Kante des Schilfdachs dick und rund geworden, schwer in eine Pfütze fielen.
Der Morgen war grau und dunstig. Wie es aussah, würde es noch mehr Regen geben. Sie beschlossen, zuerst der Klinik in Wiek einen Besuch abzustatten und dann einen ausgedehntenEinkaufsbummel zu unternehmen. Immerhin hatten sie noch keine Kreide für alberne kosmetische Anwendungen besorgt. Das musste sich ändern. Und Deike wollte unbedingt Schuhe kaufen.
»Auf dieser Insel brauchte ich schon so oft festes Schuhwerk wie vorher in meinem ganzen Leben nicht. Also werde ich mir ein Paar klobige Buschbrand-Austreter anschaffen.«
»Das klingt sehr attraktiv. Dann mal los!«
Sie entschieden sich für die Strecke über Bergen und Trent zur Wittower Fähre. Deike erzählte, dass sie diesen Weg an ihrem Ankunftstag fast vollständig gefahren sei, um dann festzustellen, dass es noch einen Ort Streu auf Rügen gab. Wenn sie jetzt darüber lachte, kam es ihr vor, als sei das eine Ewigkeit her.
»Also die Lage ist schon mal eins a«, stellte Deike fest, als sie das Auto abgestellt hatten und um das Klinikgebäude herumgingen.
»Ich hätte lieber einen Blick aufs Meer«, sagte Natty. Sie seufzte laut und vernehmlich.
»Bitte? Der Boddenblick ist doch ein Traum! Außerdem ist es nur ein Katzensprung bis hoch zum Kap.«
»Das war ein Scherz. Die Lage ist die absolute Wucht.«
Deike hakte sich schwungvoll bei ihr unter. »Komm, lass uns reingehen!«
Auch von innen machte die Einrichtung einen guten Eindruck. Es gab mehrere Abteilungen, die Orthopädie schien dabei einen bedeutenden Platz einzunehmen. Sie blieben vor einem großen Schild stehen, auf dem zu lesen war, welcher Arzt wo und in welchem Bereich tätig war.
»Sieh mal: Physiotherapie dritter Stock.«
»Von da hat man bestimmt einen traumhaften Blick über den Bodden. Da kommt doch kein Mensch zum Arbeiten.«
»Ich fürchte, auch die schönste Aussicht wird irgendwann Alltag und du hast keinen Sinn mehr dafür«, stellte Deike nüchtern fest. »Lass uns mal ein Auge riskieren. Da ist der Fahrstuhl.«
»Wir können doch nicht einfach in der Klinik herumlaufen. Wir haben hier nichts zu suchen.«
»Wieso? Das ist ein öffentliches Gebäude. Je länger wir blöd in der Gegend herumstehen, desto mehr fallen wir unangenehm auf. Komm schon!«
»Na gut. Aber den Fahrstuhl verweigere ich. Da ist das Treppenhaus.«
»Super! Und das vor dem Kauf meiner Wanderschuhe.«
»Wir wollen nicht den Mount Everest besteigen, wir wollen nur in den dritten Stock laufen.«
»Ist ja schon gut, ich hatte mir sowieso vorgenommen, mehr Sport zu treiben.«
»Mehr Sport? Machst du denn überhaupt etwas?«
Das war noch so eine Sache, in der Natty besser war als sie.
»Nein, ich bekenne mich schuldig, zurzeit komme ich einfach nicht dazu.« Sie erntete einen strengen Blick. »Okay, ich war zu faul. Bist du jetzt zufrieden?«
»Ich bin zufrieden, wenn du dich regelmäßig bewegst. Das tut dir nämlich sehr gut.«
»Es ist großartig, eine Knochentherapeutin als Schwester zu haben«, sagte Deike japsend.
Im dritten Stock sah es so hell und freundlich aus wie im Foyer. Aquarellbilder in sonnigen Tönen zierten die Wände. Es gab verschiedene Behandlungsräume und Patientenzimmer.
Leitung Physiotherapie
stand auf einem Schild neben einer Tür, hinter der sich ein geräumiges Büro verbarg. Vom Flur aus konnte man durch ein breites Fenster hineinsehen.
»Die da drinnen sieht nicht gerade übermäßig beschäftigtaus«, meinte Deike. »Geh doch
Weitere Kostenlose Bücher