Rügensommer
mehr zu bieten als nur die Seebrücke. Wenn ihr Zeit dafür habt, empfehle ich euch den Friedensberg. Das ist ein Kraftort.«
Natty prustete los: »Gibt es da Frösche?«
»Bestimmt!«
Deike boxte Natty gegen den Oberarm. »Witzig, wirklich ungeheuer witzig. Also, was gibt es denn auf dem Friedensberg nun zu sehen?«
Er erzählte, dass er von Kraftorten und derlei esoterischem Blödsinn nichts halte, aber dieser Platz sei etwas ganz Besonderes. Voller Überzeugung beschrieb er die Ruhe, die in diesem Waldstück herrschte. »Als ob die Bäume keinen Lärm dulden würden und das Moos jedes Geräusch verschluckt. Ich weiß, das klingt albern, aber ich kann es nicht anders ausdrücken. Wenn’s bei mir mal stressig wird, radele ich da hin und stehe einfach ein paar Augenblicke ganz still. Ich gucke mir an, wie die Sonne durch die Wipfel fällt, wie sie ständigwechselnde Muster auf den grünen Boden malt. Ich höre den Vögeln zu und beobachte mit Glück ein Eichhörnchen, wie es sich kopfüber an der Baumrinde festkrallt. Ein paar Minuten und ich bin total ruhig und entspannt.«
»Hört sich gut an«, gab Deike zu.
Natty nickte versonnen. »Aber kann man solche Momente der Ruhe nicht in jedem Wald erleben?«
»Einerseits ja, andererseits ist das auf dem Friedensberg anders. Ich weiß auch nicht, vielleicht liegt es daran, dass das Waldstück über dem Meer liegt.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder es gibt eben doch unerklärliche Phänomene.«
»Wir werden das ausprobieren«, entschied Natty. »Und wenn uns ein Frosch begegnet, werden wir ganz schön umdenken müssen.«
Sie fuhren an Prora vorbei. Obwohl sich die Häuserblocks der einst als KdF-Seebad geplanten Anlage kilometerlang parallel zum Strand hinzogen, waren sie vom Wasser aus fast gar nicht zu sehen. Ganz anders der Fährhafen Mukran, den sie wenig später passierten.
In Sassnitz legte die Fähre zum letzten Mal an, bevor es zu den Kreidefelsen ging.
»Die Fahrt zu den Felsen und zurück dauert noch mal eine Stunde«, informierte Hannes die beiden. »Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht schon.«
»Ganz und gar nicht.«
»Nein, überhaupt nicht.« Deike stand auf. »Aber ich verdurste gleich. Was wollt ihr trinken? Ich gebe eine Runde aus.« Hannes wollte protestieren. »Für das Rasenmähen!«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Und wofür werde ich eingeladen?«
»Weil du meine Schwester bist!« Sie strahlte Natty an.
Es war keine gute Idee, ausgerechnet jetzt zu der kleinen Bar zu gehen, als gerade neu zugestiegene Fahrgäste nach Plätzen suchten. Sie schlängelte sich auf dem Rückweg, eine große Flasche Wasser und drei Gläser in den Händen, durch die Menschen, die in Richtung Außendeck drängten. Mitten in der Menge entdeckte sie einen sonnengebräunten Mann mit schwarzen Haaren und einer Kappe auf dem Kopf: Silvio. Sie überlegte kurz, ob sie ihn auf sich aufmerksam machen sollte, doch das war nicht nötig. Auch er hatte sie inzwischen ausgemacht.
»Ciao«, rief er ihr zu und winkte.
»Hallo!« Da sie beide Hände voll hatte, begnügte sie sich mit einem Nicken.
Silvio hatte eine unübersichtliche Zahl von Italienern unterschiedlichen Alters, von einem Kleinkind bis hin zu einem alten Herrn mit schrumpeligem Gesicht, im Schlepptau.
»Meine Familie aus Napoli«, stellte er mit einer ausladenden Armbewegung vor. Die Truppe lachte sie freundlich an, der alte Herr ein wenig zahnlos, aber nicht weniger herzlich. »Und das ist die Signorina, der ich das Leben gerettet habe«, erklärte er stolz. Aha, er hatte also von ihr gesprochen. Interessant!
»Ich bin die Signorina, die er beinahe ertränkt hat«, korrigierte sie mit zuckersüßem Lächeln.
Die italienischen Herrschaften nickten begeistert. Vermutlich verstanden sie kein Deutsch.
»Bist du allein?«, wollte Silvio wissen.
»Nein, meine Schwester und mein Nachbar warten draußen auf mich.«
»Ist noch Platz bei euch? Dann setzen wir uns zu euch.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er: »Venite!«, wedelte mitdem Arm, und schon setzte sich die Truppe mit Kind und Kegel und zahnlosem Falten-Männlein in Bewegung.
»Natty, Hannes, Silvio«, machte Deike einen Moment später wenigstens die Hauptfiguren des kleinen Zwischenspiels miteinander bekannt. Der faltengesichtige Sandro, ein Großonkel mütterlicherseits, schob sich neben Natty auf die Bank. Die anderen hockten sich auf den Boden oder drängelten so lange, bis ein kleines Plätzchen für
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