Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
ausschließlich seine Gesellschaft wollte, war er sechzehn gewesen, und sie dreißig, die gelangweilte Witwe eines Freundes der Familie. Ein angenehmes Zwischenspiel, durchaus; doch plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob diese Vorteile ihm immer noch zusagten.
Er war ihr zum Bahnhof gefolgt und hatte einen Fahrschein zurück in die Stadt gelöst.
Jetzt sah er sie an, wie sie ihm stocksteif gegenübersaß. Der Regen war nur noch ein schwaches, entferntes Zischen unter dem lauteren Stampfen der Räder, die über die Schwellen in den Gleisen rollten. Das Geräusch stimmte ihn nachdenklich. Wovor hatte sie Angst? Sie war ihm viel stärker zugetan, als sie zuzugeben bereit war. Immerhin mochte sie ihn so sehr, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Er vermutete, dass sie ihn auch genug mochte, um von ihm zu träumen. Doch es gelang ihr viel besser, ehrlich zu ihm zu sein als zu sich selbst.
Wenigstens war sie genauso vergrätzt wie er. Unter dem hohen Giebelpunkt ihres Hutes blickte sie stirnrunzelnd auf die nassen Felder, die am Fenster vorbeiflogen. Selbst der kleine Vogel, der ihren Hut schmückte, schien sich in einem Dilemma zu befinden: Er zitterte, als stünden ihm unmittelbare Enthüllungen bevor.
Vielleicht wusste er, was sie plagte. Seine Bemerkungen gestern Abend hatten sie überrascht. Sie hatten ihre schlimmsten Erwartungen an ihn widerlegt. Wenn er gar kein gemeiner Verführer war, sondern ein Mann mit aufrichtigem Interesse an ihr, dann war ihr Versuch, das sündhafte Frauenzimmer zu spielen, fehlgeschlagen. Kurz gesagt, sie hatte ihn umsonst bestiegen.
Gott, es war lächerlich, sich so – verletzt? – zu fühlen. Wie ein geprügelter Hund, der sich nach einem stillen Plätzchen sehnte, um vor sich hin zu brüten und seine Wunden zu lecken. Sexuelle Wonnen garantierten keine tieferen Gefühle. Das sollte er besser wissen als sie. Mit wie vielen Frauen hatte er es in seinem Leben schon getrieben? Und sie war auch noch Jungfrau gewesen.
Doch es kam ihm so vor, als wäre in seinem Kopf alles durcheinandergeraten. Er konnte den genauen Augenblick benennen, als es geschehen war. Er hatte versucht, mit ihr über Stella zu reden, über das verdammte Gefängnis, in dem er lebte, davon, dass die Zeit, vor der ihm graute, schon sehr bald käme, wenn er aufwachen und feststellen würde, dass er zu einem weiteren stumpfsinnigen Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe geworden war, ebenso hoffnungslos wie alle anderen. Und sie hatte ihn so süß geküsst, als würde sie seine Gedanken bereits kennen und wollte ihm den Schmerz ersparen, sie auszusprechen. In jenem Kuss hatte Verständnis und Mitgefühl gelegen. Das hatte er zumindest geglaubt.
Doch in Wahrheit hatte sie ihn zum Schweigen bringen wollen. Sie hatte keine Geständnisse gewollt. Ihr war nicht an Vertrautheit gelegen. Ihm entfuhr ein kurzes Lachen. Ich bin ein verdammter Idiot . Er wünschte, er käme dahinter, wie sie es schaffte, ihn immer wieder zu verwirren. Wenn ihm das gelänge, könnte er sich vielleicht auch von diesem lächerlichen Verlangen kurieren, sie anzufassen. Ein klarer Fall von sublimierter Gewalt, vermutete er. Da er sich nicht vorstellen konnte, eine Frau zu misshandeln, missverstand er das Bedürfnis, sie zu schütteln, als Verlangen, es ihr zu besorgen.
Der Gedanke, sie zu provozieren, munterte ihn ein wenig auf. Er lümmelte sich so auf seinem Sitz herum, dass er mit den Knien ihre Röcke berührte. Sie blickte demonstrativ darauf, sagte jedoch keinen Ton. Es wurde immer schwieriger, sie aus der Fassung zu bringen. Gütiger Himmel, er hatte sie entjungfert! Sie könnte wenigstens rot werden! Vielleicht hatte sie ein Leck im Hirn, und alles, was mit Männern zu tun hatte, floss unmittelbar wieder heraus, damit sie für die wirklich wichtigen Dinge im Leben einen klaren Kopf behielt – wie verstaubte Steine und ferne Länder. Er musste ihr Anerkennung zollen: Sie verfügte über eine Million Strategien, ihren Körper zu ignorieren und dafür Sorge zu tragen, dass sie an ganz andere Dinge dachte.
Er räusperte sich. »Ich bin überzeugt, dass die Briefe, die ich erhalten habe, etwas mit Hartnetts Lieferung zu tun haben.« Seine großzügige Pause rief keine Reaktion hervor. »Die Erkenntnis kam mir ganz plötzlich. Aber Mordanschläge bringen einen eben ins Grübeln.«
Diese Bemerkung kitzelte immerhin ihr Grübchen hervor. »Werden Sie deutlicher, Sir.«
» Sir? Also wirklich, Lyd. Bist du immer so förmlich zu den
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