Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Gehröcken und Fliegen einer früheren Generation ausstaffiert, ihre Lektüre von Leitartikeln mit einem missbilligenden Brummen. Rechts von ihnen sah sich ein junges Paar sehnsüchtig seufzend Drucke von Venedig an.
Sie beobachtete das Pärchen und kam sich merkwürdig verlassen vor. Als der junge Mann beim Umblättern den Arm der jungen Frau streifte, errötete sie allerliebst. Er lächelte und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie ihr Gesicht an seinen Ärmel schmiegte.
Mr Pagett hatte sich gestern Abend mit Ana ganz ähnlich verhalten. Jetzt, wo der Hochzeitstermin offiziell feststand, glaubte er, sich solche Freiheiten erlauben zu dürfen.
Sanburne hingegen nahm sich solche Freiheiten ohne jede Berechtigung.
Lydia schluckte und sah wieder in ihr Buch. Schon seit zwei Stunden versuchte sie nun, diesen Aufsatz über die Beduinen zu lesen, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Es war höchst beschämend, sich einzugestehen, wie lange sie in den letzten Nächten wach gelegen hatte und jenen Zwischenfall bei den Stromonds im Geiste noch einmal erlebt hatte. Dass sie ihn attraktiv fand, machte sie sich nicht zum Vorwurf; die biologischen Fakten kannte sie. Doch wie ärgerlich , dass sie ihn anscheinend nicht vergessen konnte! So mussten sich Ginsüchtige fühlen. Man erfuhr aus den Zeitungen von ihrer Misere. Sie konnten sich wochenlang in Abstinenz üben, doch das Verlangen erlosch nie. Beim geringsten Anlass wiedererwacht, kostete es die Abhängigen irgendwann das Leben.
Seit dem Ball bei den Stromonds hatte sie Sophie und Ana zu keinem Fest mehr begleitet.
Sie stand auf, um zum Katalog zu gehen. Der Geruch nach Tinte und alterndem Papier war hier am intensivsten und wirkte wohltuend wie ein Tonikum auf ihre Nerven.
»Ich habe eine Mitteilung für Sie.«
Überrascht blickte Lydia auf. Ein paar Schritte von ihr entfernt stand ein junger Mann und gab vor, das Buchregal durchzusehen. Das blasse Licht eines verregneten Nachmittags fiel durch die gewaltige Glaskuppel; es vergoldete sein silberblondes Haar und verlieh seiner Haut einen bläulichen Schimmer. Neben ihm schmökerte ein Mädchen in einem grünen Kleid, einer Robe à la Polonaise. Er musste sie gemeint haben. Heimliche Turteltäubchen, zweifellos, die um ihre Heimlichtuerei viel Aufhebens machten. Mit einem schiefen Lächeln griff Lydia nach einem Registerband.
»Ich sagte, ich habe eine Mitteilung für Sie, Miss Boyce.«
Ihre Finger verkrampften sich. Der Band fiel mit einem Knall zu Boden. Mit Lithografien illustrierte Einträge, die aufgrund ihres Alters aus dem Leim gegangen waren, flatterten durch die Gegend.
Hinter ihr erhob sich ein missbilligendes Gemurmel. Sie nahm nur undeutlich wahr, dass andere Leser stirnrunzelnd von ihren Tischen aufblickten. Eine Bibliotheksaufsicht, die über einen Bücherstapel gebeugt war, richtete sich nun auf und warf ihr einen strafenden Blick zu.
Der bedeutungsvolle Blick des blonden Mannes war fast körperlich spürbar. Nach einem feigen Zögern straffte sie die Schultern und wandte sich ihm zu.
In seiner dunklen, schlichten Kleidung sah er aus wie ein Stipendiat, der ins Britische Museum gekommen war, um ein wenig Forschung zu betreiben. Seine Jugend, die Röte seiner Wangen, die rundlichen Konturen seines Gesichts hätten ihre Angst eigentlich zerstreuen sollen. »Wer sind Sie?«
»Der Freund eines Freundes«, sagte er vage. »Hier … « Er griff in seine Tasche, und sie trat hastig einen Schritt zurück. Dabei streiften ihre Röcke einen Tisch, einen belegten Tisch, dem Protest nach zu urteilen. Sie achtete nicht darauf. Ihr Blick war nur auf eins gerichtet: seine Hand, die er in seine Weste schob.
Der Zettel, den er hervorholte, war dünn. Ohne Adresse.
Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Das ist nicht für mich. Meine Freunde kommunizieren auf direktem Wege mit mir.«
»Manche Dinge kann man nicht per Post schicken«, murmelte er. »Wollen Sie mir den Brief nicht abnehmen, Miss? Man hat mich beauftragt, ihn an Sie persönlich zu übergeben.«
Aus den Augenwinkeln registrierte sie eine Bewegung: Die Aufsicht näherte sich. Der Mann würde sie ausschimpfen, weil sie den Katalog malträtiert hatte. Noch schlimmer, er könnte ihr die Leseberechtigung entziehen. Das wäre zu schrecklich!
Sie richtete sich zu voller Größe auf. »Ich kenne Sie nicht«, sagte sie steif. »Ich spreche nicht mit Fremden, die sich mir in der Öffentlichkeit nähern. Sollten Sie wirklich im Besitz von
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