Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Namen in den Mund zu nehmen? Wenn wir Freunde sein wollen , hatte sie zu ihm gesagt. Doch respektieren könnte sie ihn nicht. Himmel, wie konnte er ihr das zum Vorwurf machen? Immerhin hatte er in ihrem Beisein fast einen Menschen totgeschlagen. Und ihr Gesichtsausdruck, als er von dem Mistkerl zu ihr hochgeblickt hatte – es hatte ihm fast den Verstand geraubt. Sie hatte ihn angestarrt wie einen Unmenschen, einen Mann, der Frauen übel zugerichtet am Fuße einer Treppe liegen ließ. Es war falsch gewesen, verdammt falsch von ihr, ihn anzusehen, als würde er je die Hand gegen sie erheben. Der Ausdruck in ihrem Gesicht glich Stellas während jener letzten Wochen mit Boland.
Doch danach, aus keinem nachvollziehbaren Grund, hatte sie ihm verziehen. Das hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Immerhin hatte er sich ihr von seiner schlimmsten Seite gezeigt. Aber warum? Wollte er sie damit wegstoßen? War er inzwischen so krank, dass er Frauen nur so zum Spaß verhöhnte? Reizende Frauen, die wie Zuckerwatte schmeckten und unter seiner Berührung süß dahinschmolzen. Auf dem Dach hatte sie ihm den Atem geraubt. Und später, zwischen den Überresten der zertrümmerten Stele, hatte sie ihn angesehen, und in ihren Augen hatte ein größeres Staunen gelegen als in denen eines Neugeborenen. In jenem Moment hätte er alles mit ihr tun können. Sie sollte mit ihren Blicken nicht derartige Einladungen aussprechen. Jemand sollte sie davor warnen. Zwischen Lust und Furcht konnte man durchaus hin- und herspringen. Er kannte diverse Frauen, die dieses Rezept bevorzugten. Doch man wechselte nicht an einem Tag von Furcht zu Freundschaft. Man ließ Vorsicht walten und forderte Beweise. Wenn ihr gottverdammter Vater wirklich der Held wäre, für den sie ihn hielt, hätte er ihr das beigebracht. Aber nein. Sie war sogar noch naiver als Stella damals. Ein erschreckender Gedanke.
Dalton wollte etwas trinken, erinnerte sich James.
Er lief weiter. Im Foyer wimmelte es von Besuchern, die für Erfrischungen Schlange standen. Er kämpfte sich bis ganz nach vorn zur Bar durch, wo ein Mädchen mit einer schlaffen Federboa Gin in Sixpence-Maßen ausschenkte. Zwei kichernde Mädchen hakten sich bei ihm ein und bettelten um ein Schlückchen. Er spendierte ihnen die Getränke und bestellte dann seine. Aber er lehnte es ab, als sie ihm anboten, ihn nach oben zu begleiten. Er wusste nicht, was mit ihm los war, doch fühlte er sich seltsam distanziert von sich selbst, als beobachtete er sich von oben. Viel zu elegant gekleidet, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen: Wie stilvoll er so gut wie gar nichts tat. Es fällt mir sehr schwer, Sie zu respektieren. Tja, gut für sie. Er hoffte nur, dass Lydia ihren Respekt in sehr knauserigen Mengen austeilte, da er einen, hatte man ihn erst einmal erworben, dazu trieb, ihr völlig zu Diensten zu sein. Verfasse meine Publikationen. Treib Geld für mich auf. Wage dich in ein Elendsviertel, um mich zu schützen. Riskiere deine Sicherheit, um mir zu helfen. Und was war er für sie? Ein flatterhafter Tunichtgut, der davon träumt, ihre Handgelenke festzuhalten und sie über einen Stuhl zu beugen.
Er war gerade die zweite Treppe wieder hinaufgestiegen, als ein Mann sich aus dem Dunkel löste. Im Grunde noch kein richtiger Mann: noch keine zwanzig, mit dunklem Flaum, wo eines Tages ein Bart sprießen würde. Doch das Messer in seiner Hand war echt genug, insbesondere als er vortrat und es James an die Kehle drückte.
Überrumpelt wich James zurück. Der Junge folgte ihm, den Arm über die drei Gingläser gestreckt, die James in den Händen hielt. Ein merkwürdiges Ballett war das: Kein einziger Tropfen schwappte auf seine Finger, während er dem Jungen ins Gesicht starrte. Sein Angreifer hatte Haut wie Teakholz; Augen, die Dunkleres erkennen ließen als unbeleuchtete Treppenhäuser.
»Geben Sie es zurück«, zischte der Junge.
James sah sich um. Das war ein sehr ungünstiger Ort, um einen Mord zu begehen. Unter ihnen waren Menschen, deren Schritte sich der Treppe näherten. » Was zurückgeben?«, fragte er.
Der Junge umfasste den Griff des Messers fester. Die Klinge brannte an seiner Kehle. Ermordet in einem Varietétheater, beim Zusammenbrechen von Gin durchnässt: Das würde seinem Vater doch noch einen Herzinfarkt bescheren. »Das wissen Sie sehr gut.« Der Jüngling war zwar dunkelhäutig, doch sein Akzent war reinstes Whitechapel. Er kam also aus dem Armenviertel. »Tun Sie nicht so, als
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