Rütlischwur
konnte Judith nicht aufwachsen sehen, ohne ihre Mutter, deren Tod er selbst verschuldet hatte.«
Auf dem Weg zum Flugplatz, noch immer tief bestürzt von dem, was ihm Chester erzählt hatte, rief Eschenbach dreimal Jagmetti an.
»Wo zum Teufel steckst du?«, fragte er, als er den Bündner endlich am Telefon hatte.
»Im Kloster ist Handyverbot.«
»Was zum Teufel machst du im Kloster?«
»Nichts. Ich hab dort übernachtet … in deinem Zimmer. John hat gesagt, das geht schon in Ordnung …«
»Okay, okay.«
»Und jetzt bin ich zum dritten Mal raus auf den Kirchplatz gerannt. Zuerst hat mich Hösli angerufen. Der scheißt mich bestimmt zusammen, hab ich gedacht … Aber nein, der war wie von der Heilsarmee. Völlig umgekrempelt. Hat sich entschuldigt und ist zu Kreuze gekrochen. Ich glaub, mit dem ist etwas passiert … Ich weiß nur nicht, was.«
Der Kommissar fuhr auf den Pannenstreifen und hielt an. Er hatte Jagmetti kaum verstanden. Weder akustisch noch sonst wie. Eschenbach hatte den Eindruck, dass nicht nur mit Hösli, sondern auch mit Jagmetti etwas nicht stimmte.
»Peter Dubach, der Compliance Officer …«
»Ich weiß, wer Dubach ist.«
»Er ist gestorben … in der Nacht von gestern auf heute. An den Folgen seiner …«
Wieder unterbrach Eschenbach den jüngeren Kollegen.
Es folgte ein wildes Hin und Her von Fragen und Antworten, von klärenden Auskünften, Zusammenfassungen und Vermutungen. Dazwischen schlich sich immer wieder eine Lücke ins Gespräch. Ein betretenes Schweigen, das eine Weile anhielt, bis der eine fragte, ob der andere noch da sei.
»Hösli hat gesagt, dass Banz den Dubach dort unten eingekellert hat. Und gefoltert. Das geht anscheinend aus dem Video hervor, das wir sichergestellt haben. Hösli meint, irgendwas Krummes ist dort gelaufen. So ganz heraus mit der Sprache wollte er nicht. Ich vermute, dass Dubach etwas gefunden hat, womit er den Bankier erpressen konnte. Geht meistens schief, so was.«
»Nicht direkt erpressen«, sagte Eschenbach. »Man wollte Banz aus dem Verkehr ziehen. Aber das erzähle ich dir, wenn ich wieder zurück bin.«
»Wo bist du überhaupt?«
Eschenbach berichtete kurz, weshalb er nach Irland geflogen war und was er dort in Erfahrung gebracht hatte. Dass Judith Billadiers Tochter war, verschwieg er Claudio. Auch zu Höslis Rolle sagte der Kommissar kein Wort.
»Wir sind da in ein Spiel hineingeraten, Claudio … und ich weiß noch nicht wirklich, wie es enden wird. Billadier ist gestern Abend in die Schweiz geflogen. Ich denke, er wird Judith entlasten und danach den Freitod wählen.«
»Er wäre nicht der Einzige, der zum Sterben in die Schweiz kommt«, sagte Jagmetti etwas verwirrt. »Dignitas, Exit … das Geschäft mit dem Sterben boomt bei uns. Dagegen können wir nichts unternehmen. Aber wenn er Judith tatsächlich freikriegen will … Billadier muss ein überzeugendes Geständnis hinlegen. Keine Ahnung, wie er das anstellen will.«
»Das wird er, Claudio. Glaub mir, das wird er. Und gerade deshalb möchte ich nochmals mit ihm reden. Fahr nach Rüschlikon, in die Klinik Rosen. Wenn mich nicht alles täuscht, ist er dort. Versuch ihn irgendwie hinzuhalten, wenigstens bis ich zurück bin.«
Nach dem Telefonat mit Claudio fuhr Eschenbach weiter. Die Sache drehte sich in seinem Kopf wie in einer Endlosschleife. Er hatte Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Links auf der Kriechspur, mit Tempo achtzig – eingeklemmt zwischen zwei Sattelschleppern –, rief er Rosa an. Weil sie schon ein paarmal versucht hatte, ihn zu erreichen, konnte er die Nummer ganz einfach aus dem Speicher abrufen.
»Sind Sie auf einer Raketenbasis?«
»Nein!«, schrie Eschenbach ins Telefon. Er kurbelte das Fenster hoch und bat Rosa, ihm die Nummer vom Gerichtsmedizinischen Institut in Zürich zu geben.
»Kurt Salvisbergs direkte Linie, bitte.«
Auch wenn er im Moment nicht im Dienst der Kantonspolizei war, dachte Eschenbach. Vielleicht würde der Professor ein Auge zudrücken und ihm die Ergebnisse der pathologischen Befunde nicht vorenthalten. Immerhin hatten Kurt und er über zwanzig Jahre zusammengearbeitet, waren über diese lange Zeitspanne hinweg so etwas wie Freunde geworden. Wenn Billadier tatsächlich mit einem Geständnis aufwarten würde, so wie Eschenbach vermutete, dann kam es auf die Details an.
Eschenbach wusste von Claudio, dass der Bankier erschossen worden war. Aber wie genau, darüber hatte sich Jagmetti nie geäußert.
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