Rütlischwur
nachdem ich von diesem Geständnis erfahren habe. Wenn jemand so plötzlich den Winkelried spielt … Darum habe ich die Akte nochmals durchgesehen.«
»Und?«
»Wäre durch den Schuss die Halsarterie verletzt worden, dann könnte ich dir eine klare Antwort geben.«
»Wäre und könnte«, grummelte der Kommissar. »Warum sterben bei dir immer alle im Konjunktiv?«
»Ein lebendes Bankerherz hätte Blut aus der offenen Arterie gepumpt – das hätte dann eine ziemlich große Sauerei gegeben. Wäre er bereits tot gewesen, dann hätte auch aus einer zerschossenen Arterie kein Blut spritzen können … weil, ein totes Herz pumpt nicht.«
»Aber die Halsarterie war unversehrt«, folgerte der Kommissar.
»So ist es. Und wo kein Leck ist, kann nichts rausfließen. Deshalb sind beide Möglichkeiten denkbar.«
»Wenn du meinst«, sagte Eschenbach. Er war sich nicht ganz sicher, ob er die Salvisberg’sche Logik verstanden hatte.
»Allerdings«, Salvisberg erhob sich, nahm den Bericht und warf ihn zu zwei Dutzend anderen Dossiers auf einen Stapel. »Ich frage mich, weshalb keiner von deinen Kollegen, die an dem Fall arbeiten, auf solche Ideen kommt.«
Nach dem Besuch beim Pathologen fuhr der Kommissar zu seiner Wohnung. Auf dem Handy entdeckte er die Mitteilung von Claudio: Es war zu spät. Konnte Billadier nicht mehr aufhalten. Sorry.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, dachte sich Eschenbach. Eine halbe Stunde vor Mitternacht stand er unten vor dem Hauseingang und klingelte bei seiner Nachbarin.
Diesmal hatte er Glück.
»Es tut mir leid, dass ich um diese Zeit noch störe … aber Sie haben doch einen Schlüssel. Ich hab meinen verloren.«
»Sind Sie es, Herr Eschenbach?«
»Ja, natürlich. Entschuldigung.«
Ein Summton erklang, die Haustür sprang auf.
Eschenbach erklomm die Stufen der alten Holztreppe bis in den dritten Stock. Vor dem Eingang zu seiner Wohnung stand sie: Edith Ballmer, Ende vierzig, geschieden – eine durchaus attraktive Brünette. Das kurze Négligé, das sie trug, machte aus ihrer nahtlosen Bräune nicht das geringste Geheimnis.
»Ich bin die letzten paar Wochen auf Rügen gewesen, bei Freunden«, erklärte sie dem Kommissar. »Mein Sohn Claude hat bei Ihnen die Blumen gegossen … Ich hoffe, er hat es nicht vergessen.«
Er nahm den Schlüssel und öffnete die Tür. Edith Ballmer folgte ihm in die Wohnung.
Im Halbdunkel der Diele blieb Eschenbach stehen.
»Ich habe gar nicht gewusst, wie wild die Nordsee ist«, sagte sie. »Ehrlich … kein Vergleich zur Adria, wo ich sonst immer hinfahre.«
Eschenbach tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. »Ist es nicht die Ostsee?«, murmelte er.
»Alles ist wild dort, irgendwie …« Edith Ballmer strich sich flüchtig durchs lose Haar.
Der Kommissar roch ihr Parfüm.
Das Licht fiel durch die halboffene Wohnungstür und überzog Ediths nackte Schultern mit einem goldenen Schimmer.
Eschenbachs innere Stimme meldete sich:
»Mach jetzt bloß keinen Mist, nur weil du ein paar Tage ins Kloster musstest.«
Die Beleuchtung im Hausflur erlosch. Mit einem Schlag wurde es dunkel.
»Ich bin müde, entsetzlich müde sogar …«, hörte Eschenbach sich sagen. Diesmal war es die äußere Stimme. »Ich habe gerade einen Vortrag über offene Halsarterien gehört … Jetzt sehe ich überall Blutfontänen! Vermutlich wird mir gleich schlecht. Dabei müsste jeden Moment meine Frau kommen, mit dem ganzen Gepäck …« Er tastete im Dunkeln die Wand ab. War es denn menschenmöglich, dass er in seiner eigenen Wohnung den Lichtschalter nicht mehr fand?
Mit einem »klack« wurde es hell.
»Hier einfach draufdrücken«, sagte Edith. Sie zeigte mit dem Finger auf die Stelle, schaltete das Licht noch einmal aus und an und ging zum Ausgang. Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, zog sie die Tür hinter sich zu.
»Was bist du nur für ein Idiot«, fuhr ihn seine innere Stimme nun an. Sie hatte im Nachhinein ganz plötzlich ihre Meinung geändert.
Am nächsten Morgen gegen neun stand Eschenbach auf. Er ging in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein, öffnete die Tür zur Terrasse und trat ins Freie. Der Himmel über Zürich leuchtete in einem hellen Blau, die Luft war klar und frisch. Eschenbach atmete tief durch, streckte die Arme weit nach oben, um gleich darauf wieder in sich zusammenzusacken, wie ein angeschossener Elch.
Es war das nackte Grauen, das sich ihm bot. Sein geliebter Ahornstrauch
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