Rütlischwur
uns, für Sie zu beten.«
Eschenbach nickte.
»Und die Knochen heilen?«
»Alles heilt«, antwortete der Kommissar.
»Wenn Sie ein wenig frische Luft brauchen«, der Mann deutete mit der Hand zum Ende des Ganges. »Etwas weiter vorne, dann links. Dort finden Sie den Ausgang.«
Eschenbach bedankte sich und ging weiter. Man hatte für ihn gebetet, das war immerhin schon etwas.
Auf seinem Weg in Richtung Ausgang traf Eschenbach noch drei weitere Ordensbrüder. Auch sie grüßten ihn höflich, erkundigten sich nach seinem Befinden und ermunterten ihn, bei diesem schönen Wetter draußen einen Spaziergang zu unternehmen.
Die Begegnungen taten Eschenbach gut. Die Gesichter der Mönche hatten etwas Heiteres, fand er. Und plötzlich hatte der Kommissar das Gefühl, dass man innerhalb dieser Mauern nicht flüstern musste, sondern ganz normal sprechen konnte.
Vielleicht sogar lachen?
Ganz sicher war er sich nicht. Aber die sakrale Stille, die hier offenbar zu Hause war, hatte ein menschliches Antlitz bekommen. Das beklemmende Gefühl, das ihn die ganze Zeit begleitet hatte, begann sich zu verflüchtigen. Auch das Quietschen seiner Turnschuhe auf dem Boden störte ihn plötzlich nicht mehr. Nur die Schmerzen waren noch da; ein dumpfes Gefühl inneren Geschundenseins – als wäre sein Körper mit Reißnägeln gefüllt.
Draußen fand er sich im Schatten eines mächtigen Kirchenportals wieder. Er blieb einen Moment stehen und sog die kühle Morgenluft tief in seine Lungen. Zögerlich ging er weiter. Vor ihm, leicht abschüssig, lag ein großer Platz. Wäre er nicht mit Menschen gefüllt gewesen, vielleicht hätte er dann geschrien vor Freude. Die Schritte, die er tat, gingen wie von selbst. Beschwingt und leicht bewegte er sich über das Kopfsteinpflaster und dann die paar Treppenstufen hinunter bis zur Straße. Die Mühelosigkeit, mit der er sich bewegte, hatte topographische Gründe. Aufgrund der erhöhten Position von Kloster und Kirche fiel der Weg zum Dorf hin ab – ließ sich also ohne Kraftaufwand und beinahe schwebend zurücklegen.
Gott hatte die Schwerkraft nicht auf seiner Seite.
Auf der anderen Seite des Platzes befanden sich eine Reihe von kleinen Restaurants und Cafés. Auf dem Gehsteig und auf einer großen Terrasse im ersten Stock eines der Gebäude saßen Leute an kleinen Tischen: Sie aßen, tranken und hielten ihre Gesichter in das wärmende Sonnenlicht. Eschenbach überkam die Lust auf einen Espresso. Er grub in seinen Taschen und stellte fest, dass er kein Geld hatte. Etwas beschämt durch seinen Aufzug, schlenderte er weiter. Vor dem Buchladen Benziger machte er halt und betrachtete die Auslage: Das Wunder der Engel … Der Engel in uns … Was mir mein Engel erzählt. Die dekorierten Bücher machten keinen Hehl daraus, dass Gott gleich gegenüber wohnte.
Eine Gruppe älterer Menschen, mehrheitlich Frauen, verließ den Laden. Ihre Plastiktüten waren vollgepackt. »Die Sachen können Sie im Bus deponieren«, leierte ein hagerer Mann schmallippig herunter. Dann verkündete er mit ernstem Gesicht und tragender Stimme die Fortsetzung des Programms: »Als Nächstes empfängt uns die Schwarze Madonna … Treffpunkt vor dem Kircheneingang um Punkt zehn.« Offenbar war er der Reiseleiter.
Die Schwarze Madonna!
Eschenbach drehte sich um, erblickte die imposante Front der Klosterkirche mit ihren zwei Türmen – und auf einen Schlag wusste er, wo er gelandet war.
»Einsiedeln«, murmelte er. Gedankenverloren wandte er sich ab und steuerte auf einen Kiosk zu, der zwischen den Cafés regelrecht eingeklemmt zu sein schien. Weil er keine Ahnung hatte, welcher Wochentag war, wollte er einen Blick auf eine Tageszeitung werfen. Allerdings bezweifelte er, dass sich dadurch die Lücken in seinem Kopf füllen oder sogar schließen würden. Fehlten ihm nur ein paar Tage, oder waren es Wochen? Noch nicht einmal das konnte er mit Sicherheit sagen. Der Kommissar fühlte sich wie auf einem wackeligen Schemel; nicht wirklich mit der Erde verbunden. Was war bloß mit ihm passiert?
Eine Zeitung war keine schlechte Idee. Aber die Dinger kosteten etwas. Auch wenn ganze Heerscharen an diesen Ort pilgerten, es gab keine kostenlosen Pendlerzeitungen in Einsiedeln. Noch nicht. Einen kurzen Moment überlegte er, ein Exemplar zu stehlen. Irgendwie musste er seinen Filmriss beheben. Im knallbunten Blick stand manchmal tagelang derselbe Mist. Vielleicht würde so seine Erinnerung zurückkehren. Das Boulevardblatt
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