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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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groß, trug eine Brille. Eschenbach schätzte ihn auf etwa siebzig. Sein dichtes Haar war überwiegend weiß, an den Schläfen und im Nacken mit gelblich blonden Strähnen durchmischt. Als der Fremde sich umdrehte, blickte er Eschenbach direkt in die Augen.
    »Sind Sie Ewald Lenz?«, fragte der Kommissar.
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie müssen mich verwechseln.«
    »Ja, natürlich.« Eschenbach wunderte sich über seinen spontanen Einfall. Vielleicht war es die Hornbrille gewesen oder die wässrigen graublauen Augen, die ihn auf Lenz gebracht hatten – oder war es der helle Schnurrbart? Etwas verwirrt entschuldigte sich Eschenbach abermals. Was für eine absurde Situation. Eine plötzliche Mattheit überfiel ihn, eine Niedergeschlagenheit, als hätte er eine Prüfung nicht bestanden. Am besten, er ging zurück ins Kloster, um sich ein wenig hinzulegen und um nachzudenken.
    »Die sind für Sie«, sagte der Fremde. Er hielt dem Kommissar das Bündel Zeitungen hin. »Bestimmt gibt Ihnen die Giftschnecke noch eine Plastiktüte … natürlich nur, wenn Sie wollen.«
    »Ich kann doch nicht …«
    »Können Sie ruhig«, sagte der Mann. »Ist immer gut, wenn man auf dem Laufenden ist … und wenn die Quellen voneinander unabhängig sind.«
    Eschenbach nahm das Bündel, sah zur Kioskfrau, die missmutig und betont langsam nach einer Tüte kramte. Als alle Zeitungen verstaut waren, wollte der Kommissar sich bedanken. Aber der Fremde war weg. Eilig trat Eschenbach aus dem Windschatten des Kiosks ins Freie, schaute in alle Richtungen. Er konnte den Mann mit dem Schnurrbart nirgends mehr entdecken.
    Auf halbem Weg zurück setzte sich der Kommissar auf die Treppe, die hinauf zum Kloster führte. Die Leute gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Der Mann war und blieb verschwunden. Die Sonne schien über das mächtige Kirchenportal hinunter auf den Platz. Eschenbach spürte, wie sie ihm den Rücken wärmte. Er klappte den Blick auf, balancierte ihn auf der Tüte, die auf seinen Knien lag, und fand die Stelle, an der seine Lektüre unterbrochen worden war.
    »Ich sehe, Sie haben sich mit Literatur eingedeckt.«
    Von hinten hatte sich ein Schatten auf ihn gelegt. Eschenbach drehte sich um. Er blickte in das rundliche Gesicht, in dem, etwas schief und ebenso rund, die kleine Nickelbrille hing.
    »Ich bin Bruder John.«
    »Weiß ich doch«, sagte der Kommissar etwas schroff.
    »Sie kennen mich also?«
    Eschenbach nickte. Es war nicht nur das Gesicht, auch an die Stimme konnte er sich erinnern. »Die Suppe … und Sie haben bei mir am Bett gesessen, nicht wahr?«
    Der Mönch schlug die Hände zusammen. »Ich sehe, Ihr Gedächtnis funktioniert wieder prima.«
    »Ja, ja …« Eschenbach faltete die Zeitung, steckte sie in die Tüte zu den anderen und stand auf. Er überragte den Mönch um mehr als einen Kopf. »Und jetzt kommen Sie mich abholen … der Patient muss zurück in sein Zimmer.«
    »Ach was.« John schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht, wenn man die Gegend hier nicht kennt …«
    »Wird man in den dunklen Gassen von Einsiedeln niedergeschlagen?«
    »Und ausgeraubt!« John sah zum Kirchturm. »Am gefährlichsten ist es morgens um Viertel nach zehn.«
    Eschenbach mochte den kleinen, rundlichen Mann auf Anhieb. Dabei war es nicht nur der Humor, der ihm behagte; es war die feinfühlige und respektvolle Art, wie ihm der Mönch begegnete.
    »Sie sagen es, Bruder.«
    »Humor nicht verloren, nichts verloren«, meinte John mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich bin aus Niddrie, das ist ein kleiner Vorort von Edinburgh. Vor über zwanzig Jahren bin ich hierhergekommen. Quit or stay , das ist mein Motto … Es liegt ganz bei uns. Der Himmel ist blau, und wir sind frei.«
    »Mit der Freiheit ist es so eine Sache.« Eschenbach lachte. Edinburgh hatte wie Edinbrrrah geklungen. Er sah an sich hin­unter. »In diesem Aufzug kommt man nicht weit, ich meine … ohne Portemonnaie und Handy.«
    »Was soll ich da sagen?« Der Mönch streckte sich und legte Eschenbach eine Hand auf die Schulter. »Wenn Sie wollen, dann können Sie noch bei uns bleiben, bis Sie sich ganz erholt haben.« Er deutete mit dem Kinn auf die Plastiktüte in Eschenbachs Hand: »Wenn ich die Zeitung richtig lese … Die schreiben, dass Sie auch in dieser Bank arbeiten.«
    Eschenbach nickte. Er dachte an seine Visitenkarte, die ihm die junge Frau gegeben hatte.
    »Ich habe keine Ahnung, was in dieser Bank vorgefallen ist«,

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