Rütlischwur
kostete zwei Franken, zwei zu viel. Vor allem dann, wenn man kein Geld hatte.
Zwei Jahre zuvor hatte Kathrins Lehrerin ihn gefragt, ob er in ihrem Unterricht etwas über seine Arbeit erzählen könnte. »Die Pubertät, Sie wissen schon«, hatte sie ihr Anliegen begründet. »Und es wird viel gestohlen an unserer Schule. Ein paar Kinder sind bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Der Unterschied zwischen Mein und Dein – könnten Sie darüber etwas sagen?«
Stehlen war also keine Option. Der Kommissar wunderte sich, wie dieser Gedanke überhaupt in sein Hirn gefunden hatte. Vielleicht dachte man mit Trainingsanzug und ohne Geld in der Tasche einfach anders. Er könnte sich die zwei Franken erbetteln. Wenn Leute für Engel Hunderte von Franken lockermachten, dann würden sie vielleicht auch ihm …
Häsch mer zwei Schtutz?
Der Kommissar lachte laut heraus. Er würde zurück ins Kloster gehen und sich seine Sachen geben lassen. Herrgott noch mal – was war mit ihm los?
Kennen Sie diese junge Frau? – Die Schlagzeile des Blick sprang ihn förmlich an.
»Darf ich da mal reinsehen?«, fragte Eschenbach höflich die Kioskfrau. Die Zeitung lag direkt neben dem Tages Anzeiger , umgeben von Schokoriegeln und Kaugummipackungen. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er zu und schlug die Zeitung auf.
»Nur anschauen, nicht lesen!« Die Mittvierzigerin warf ihm einen giftigen Blick über die Süßigkeiten hinweg zu.
Es traf ihn wie der Blitz: Auf der Titelseite war eine junge Frau abgebildet, die ihn mit stechendem Blick ansah … Er kannte sie. Auch das Foto hatte er schon irgendwo gesehen. Es war dieses unverwechselbare Grün der Augen. Eine Farbe, die man normalerweise nur mit Jade und alten Burgunderflaschen in Verbindung brachte.
»Zwei Franken«, sagte die Frau in schneidendem Ton.
Eschenbach las die Zeilen unterhalb des Bildes: Im Mordfall Banz sucht die Zürcher Kriminalpolizei eine junge Frau. Laut ihrem Kommandanten Max Hösli handelt es sich dabei um Judith Bill, die persönliche Assistentin des ermordeten Bankiers. Frau Bill ist flüchtig …
Mit einem zischenden Laut entglitt die Zeitung Eschenbachs Händen.
»Herrgott«, fluchte er.
»Erst zahlen, dann lesen!« Die Frau, die aus ihrem Kabäuschen herausgeeilt war, faltete das Blatt zusammen und legte es wieder zurück zu den anderen. »Wo kommen wir hin … Ich bin ein Kiosk, keine Bibliothek!«
»Ich bringe das Geld später.«
»Das sagen alle.« Sie machte auf dem Absatz kehrt.
Eschenbach stand wie versteinert da. Er konnte nicht fassen, was er gerade gelesen hatte. Seine Augen fixierten das oberste Exemplar auf dem Stapel. Mindestens dreißig weitere lagen drunter. Der Kommissar kniff die Lippen zusammen.
»Unterstehen Sie sich … Die Polizei ist gleich um die Ecke.« Die Frau hatte hinter den Zeitschriften und Süßigkeiten wieder Position bezogen.
»Ja, ja …«, murmelte Eschenbach wütend. Weil die Zeitung gefaltet war, konnte er Judiths Augen nicht mehr erkennen. Nur die Stirn und den Ansatz ihrer pechschwarzen Haare. Der Kommissar blickte genervt zu der Frau, die die resolute Feldherrin gab. »Dumme Giftschnecke«, sagte er gerade so laut, dass sie es noch hören konnte, dann drehte er sich so schwungvoll es ging um und stieß mit einem Mann zusammen. »Hoppala.«
»Sie Penner.« In der Stimme der Frau schwang Häme mit.
Ganz anders der alte Mann, den Eschenbach fast umgerannt hätte. Der lächelte. Eschenbach war irritiert. Außerdem war es ein freundliches Lächeln. Nicht dieses gequälte Schmunzeln, das man zu sehen bekam, wenn jemandem ein Missgeschick zustieß, und auch nicht dieser belustigte Ausdruck, der Schadenfreude ausdrückte. Der Mann sah aus wie jemand, der nach langer Zeit einen alten Freund getroffen hatte. »Entschuldigung«, sagte er. Seine Stimme hatte einen angenehm rauchigen Klang.
Eschenbach zögerte einen Moment, dann sagte er: »Ich muss mich entschuldigen.« Aber seine Worte gingen ins Leere. Der alte Mann war bereits damit beschäftigt, aus den Regalen und Auslagen eine Auswahl an Zeitungen herauszunehmen: NZZ, Tages Anzeiger, Obersee Nachrichten, Einsiedler Anzeiger … Er übergab sie der Kioskfrau und bat sie zusätzlich um einen Blick .
Eschenbach musterte den Mann von der Seite. War es möglich, dass er ihn kannte? Unter normalen Umständen hätte er geschworen, diesen Menschen noch nie in seinem Leben gesehen zu haben. Aber so, wie er im Moment beieinander war … Der Mann war
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