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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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zärtlich in der fremdartigen, melodiösen Sprache. Im Hintergrund war eine weitere Hütte zu sehen, ihr Strohdach leuchtete golden in der tiefstehenden Sonne.
    Judith saß neben ihrem Chef, Kurt Imholz, im abgedunkelten Sitzungsraum des Hotels St. Gotthard. Auch der schwarze König, Paul Zimmer vom Strategischen Nachrichtendienst beim Bund, und der Herz-Bube, Max Hösli, schauten konzentriert auf die Leinwand. Von beiden konnte Judith nur die Umrisse erkennen.
    Am Fußende des Tisches, direkt vor der Leinwand, saß Zimmers Assistent Adrian Horlacher mit dem Laptop. Der Film, den er gerade eben gestartet hatte, war kein Ferienspot, dessen war sich Judith sicher. Trotz der frohen Farben der Bilder und des lieblichen Singsangs des Jungen ahnte Judith das Bedroh­liche bereits jetzt, noch bevor es sich auf der Leinwand manifestierte.
    Sie starrte auf den Mund des Kleinen. Er hatte die vollen Lippen aller Afrikaner, und wenn er sie bewegte, strahlten die Zähne in seinem dunklen Gesicht wie kostbare Perlen. Eine weitere Kinderstimme erklang. Sie sprach deutsch, war lauter und übersetzte den Singsang des schwarzen Jungen.
    Die Kamera zoomte näher ran.
    »Sie gaben uns Macheten …«, sagte der Kleine zögerlich. »Und sie haben befohlen, geht los und schneidet sie in kleine Stücke … So klein, dass sogar die Fliegen sie tragen können.« Der Junge machte eine Pause, knotete seine Finger fest zusammen und löste sie wieder: »Also gingen wir los und zerhackten sie …«
    Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. Die Kamera schwenkte, zoomte auf eine Gruppe Kinder, die mit einer Maschinenpistole in eine brennende Hütte feuerten.
    »Stopp«, sagte der schwarze König.
    Der Film fror mitten im Mündungsfeuer ein.
    »Kindersoldaten«, sagte Zimmer. »Aufgenommen an der Grenze zwischen Sudan und Uganda.«
    Obwohl Judith in der Dunkelheit die Gesichter von Hösli und Zimmer nicht erkennen konnte, spürte sie förmlich, wie die Augen der beiden Männer auf ihr ruhten. Sie durfte sich von diesen Bildern nicht einnehmen lassen, dachte sie. Unweigerlich kam ihr die Werbung einer Schweizer Versicherung in den Sinn: wie Kinder durch einen Garten rennen, einem bunten Ball hinterher. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob es eine Hausrats- oder eine Lebensversicherung war, um die es ging.
    Was zum Teufel wollten diese Leute von ihr, was war ihre Absicht? Judith versuchte sich wieder auf Zimmers Bericht zu konzentrieren:
    »Die USA und Uganda unterstützten Rebellentruppen, um sich ertragreiche Erdölfelder im Süd-Sudan zu sichern.« Zimmer sprach leise und sachlich, als läse er aus einem Telefonbuch vor. »Im Gegenzug finanzierte die sudanesische Regierung die Milizen der Lord’s Resistance Army, die in Uganda wüteten. Bis vor vier Jahren.« Zimmer machte eine kurze Pause.
    »Soll ich mehr Licht machen?«, fragte Hösli.
    »Warte.« Zimmer zeigte mit dem Laserpointer auf das eingefrorene Bild auf der Leinwand. »Das ist eine AK47, eine Kalaschnikow, erhältlich für fünfundsiebzig Dollar.«
    »Massenware«, ergänzte Hösli. »Die meisten davon stammen aus den Beständen der Sowjets.«
    Zimmer legte den Laserpointer vor sich auf den Tisch. Als Chefbeamter beim Bund war er gewohnt, dass man ihm folgte. Er wartete, bis sein Assistent das Licht wieder angemacht hatte. Dann sprach er leise und ohne besonderes Pathos weiter: »Nachdem Joseph Kony seinen Bürgerkrieg im Sudan beenden musste, suchten die Waffenhändler weitere Absatzmärkte und fanden sie im Norden Kongos, am Kivu-See. Waffenhandel ist in Afrika wie ein Wanderzirkus.«
    Judiths Anspannung wuchs. Sosehr sie es auch versuchte, sie wurde die Bilder nicht los, im Gegenteil. Was der Junge erzählt hatte, begann sich vor ihrem geistigen Auge abzuspielen. In allen Details sah sie, wie Waffen aus Kindern Mörder machten.
    Diese Bilder hatte man ihr nicht gezeigt. Vermutlich gab es sie weder auf Film noch auf einer Festplatte. Aber sie gehörten dazu. Die Wahrheit ist immer das ganze Bild, sie lässt sich nicht in Einzelteile zerlegen. Seit Judith denken konnte, hatte sie diese Visionen, sah Dinge, die niemand erzählt oder dokumentiert hatte.
    Oft waren es Ahnungen, aber manchmal, so wie in diesem Augenblick, bestürmten sie die Bilder mit quälender Genauigkeit, und sie sah den Film hinter dem Film. Bilder, die sie nicht abschütteln oder wegdrücken konnte. Sie musste hinsehen. Die Wahrheit aushalten. Was der Junge erzählt hatte, war die Wahrheit. Und diese Wahrheit

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