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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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fragte Jagmetti leise.
    »Vermutlich fürs Geldverdienen.«
    Jagmetti zuckte die Achseln und sah sich um. »Kennst du die Leute hier?«
    »Ein paar Gesichter, mehr nicht.«
    »Und Familie?«
    »Seine Frau und er haben sich getrennt. Mehr weiß ich nicht.«
    »Kinder?«
    »Keine Ahnung.«
    »Und Geschwister?«
    »Auch nicht.«
    »Freundinnen?«
    Eschenbach atmete ein paarmal tief durch. »Ich weiß es nicht. Seit wir uns wieder getroffen haben … Er hat kaum über Privates gesprochen.«
    Als zweiter Redner war der Präsident der Bankiervereinigung an der Reihe. Ein untersetzter, breitschultriger Mann mit Schnauzbart.
    Wieder schaute Jagmetti Eschenbach fragend an. Der Kommissar schüttelte leicht den Kopf. Das Zittern seiner Knie hatte etwas nachgelassen.
    »Nur aus den Medien … Die Schweizer Bankiervereinigung ist vielleicht die mächtigste Gruppierung in unserem Land. Eine Interessengemeinschaft, gegründet am Anfang des letzten Jahrhunderts. Seither stellen abwechselnd die Genfer und die Deutschschweizer Privatbankiers den Präsidenten. Auch Banz hatte diese Funktion einmal inne.«
    Eine feurige Brandrede war im Gang: gegen die Feinde des Kapitalismus, gegen die inneren und die äußeren. »Auch wenn du tot bist, mein lieber Jakob – wir sind hier, und wir schlafen nicht!«
    Nessun dorma kam als Nächstes. Vassily Borokowsky, ein Nachwuchstalent des von Banz gegründeten Studio Opéra Zurichoise schmetterte das Lied bis unter die Kuppel. Auf ihn folgte die Stadtpräsidentin mit verschmierter Wimperntusche (wegen Nessun dorma ). Sie lobte Banz als Mäzen der Stadt, als Wohltäter und Querdenker.
    Und so ging es weiter, wie auf der Delegiertenversammlung der SVP oder an einem fünfzigsten Geburtstag.
    Jagmetti streckte den Hals: »Ist dir aufgefallen, dass die vorderen zwei Reihen leer sind?«
    »Der Platz für die engsten Familienangehörigen.«
    »Eben. Aber da sitzt keiner.«
    »Ich hab’s auch bemerkt.« Eschenbach konnte an Jagmettis Reaktion ablesen, dass der junge Mann nicht begreifen konnte, dass man am Ende allein war. Allein sein konnte, wenn der Teufel es wollte.
    »Wem kondoliert man eigentlich, wenn keiner aus der Familie da ist?«
    Eschenbach hob die Schultern. »Den Freunden?«
    »Die sich selbst?«
    »Oder dem Pfarrer?«
    »Der Bank?«
    Die Feier nahm kein Ende. Aber es war nicht die Andacht vor einem Toten. Je länger Eschenbach das Geschehen verfolgte, desto mehr spürte er die aufkeimende Wut und die Ohnmacht eines gebeutelten Berufsstandes. Banker zu sein war in diesen Tagen kein Zuckerschlecken: Man war anderes gewöhnt.
    Bewunderung und Anerkennung.
    Mindestens aber Respekt.
    Und jetzt wurde man plötzlich für schuldig gehalten, über Nacht, an einer Finanzkrise, die den Namen verdient hatte; der ganze Weltenjammer war auf schmale, nadelgestreifte Schultern geladen worden, nun hatte man ihn zu tragen, ob man wollte oder nicht.
    Geld, o Geld! Du Gott gewordener Zaster, wo bist du hin?
    Asche zu Asche!
    Nach über einer Stunde hatte Eschenbach genug gesehen und gehört. In seinem Kopf hämmerte es, sein Sweater war völlig durchgeschwitzt. Er musste raus, an die frische Luft.
    »Gehen wir?«
    Jagmetti nickte.
    Als sie ins Freie traten, schnaufte der Kommissar laut auf: »Ich will wieder auf Hochzeiten … nicht auf Beerdigungen.«
    »Zu meiner bist du eingeladen«, sagte Jagmetti.
    »Du heiratest?«
    »Nein. Aber wenn’s denn mal so weit ist …«
    »Ja, ja. Ich wär einfach froh, wenn ich dann noch gehen kann.«
    An der Treppe, die hinunter zum Limmatquai führte, blieb der Kommissar stehen. Ihm war eingefallen, dass er am Vor­abend vergessen hatte, John auch Rosas Nummer zu geben.
    »Hast du eigentlich Rosa gesehen?«
    Claudio schüttelte den Kopf.
    »Das wundert mich eigentlich. Gerade Rosa …« Eschenbach warf einen Blick zurück auf die mächtigen Doppeltürme des Münsters. »Das wär ihr Ding gewesen. Sie hat ein Flair fürs Große und Tragische.«
    Sie schritten die Stufen hinunter. Auf halbem Weg kramte der Bündner ein paar zusammengefaltete A4-Blätter aus der Innentasche seines dunklen Vestons. Nach einem Seitenblick fragte er beiläufig: »Schläfst du eigentlich mit ihr?«
    Eschenbach, der um ein Haar eine Stufe verfehlte, blieb stehen und hielt sich an der Mauer fest.
    »Mit Rosa?«
    »Nein, natürlich nicht mit Rosa.«
    »Mit Corina?«
    »Tu nicht so scheinheilig!« Jagmetti, ein paar Stufen weiter unten, hielt nun ebenfalls inne. Er drehte sich ganz zu Eschenbach

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